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Donezk fürchtet vor allem den »Raub am Volk«

Protest gegen Kiewer Regierung hält in der Ostukraine an

  • Ulrich Heyden, Donezk
  • Lesedauer: 4 Min.
Die meisten Bewohner der ostukrainischen Industriemetropole Donezk scheinen eher auf den geflohenen Präsidenten Viktor Janukowitsch und Wladimir Putin als auf die Regierung in Kiew zu setzen.

»Wir sind es gewohnt, dass sich unsere Präsidenten persönlich bereichern«, meint die Lehrerin Nina, eine von 7000 Demonstranten, die sich am vergangenen Sonntag auf dem Leninplatz im ostukrainischen Donezk versammelt hatten. Einige hielten Plakate in den Händen, die den nach Russland geflohenen und am Wochenende aus der Partei der Regionen ausgeschlossenen Präsidenten Viktor Janukowitsch aufforderten, zurückzukehren und »Ordnung zu schaffen«. Auch Janukowitsch habe sich bereichert, gibt Nina zu. Aber »auch dem Volk« habe er etwas gegeben. Das Leben habe sich langsam verbessert, die Gehälter seien pünktlich gezahlt worden.

Was die neue Regierung in Kiew jedoch vorhabe, sei der reinste »Raub am Volk«, meint die 50-jährige Lehrerin. Das könne man nicht hinnehmen. Die Gaspreise für die Bevölkerung sollen ab 1. Mai in einem ersten Schritt um 50 Prozent erhöht werden. Sie als Lehrerin sei außerdem betroffen von der Streichung aller Gehaltszuschläge und der Erhöhung der Unterrichtsstundenzahl von 18 auf 24 - ohne Gehaltsausgleich. In Zukunft werde sie statt 2500 nur noch 2000 Griwna (umgerechnet 133 Euro) im Monat verdienen.

Der Protest gegen die Regierung in Kiew hält in den Städten der Süd- und Ostukraine an. Am Wochenende demonstrierten in Donezk und anderen Städten Tausende gegen eine Assoziierung der Ukraine mit der EU, für die Zollunion mit Russland und ein Referendum über die Föderalisierung des Landes. Auch die Forderung nach Autonomie der russischsprachigen Gebiete wurde laut. Demonstranten des »Russischen Blocks« trugen in Donezk historische schwarz-blau-rote Fahnen der »Donezk-Republik«, die 1918 Teil Sowjetrusslands war.

Vom Leninplatz zogen die Demonstranten zum Denkmal für die Befreier des Donbass im Zweiten Weltkrieg und legten dort rote Nelken für die vor 40 Tagen in Kiew getöteten Polizisten der Spezialeinheit Berkut nieder. »Referendum«, riefen sie und »Russland, Russland!« Es sei gut zu wissen, dass es Russland gibt, meinte einer im Zug. Auch wenn es nicht zur Vereinigung der Ostukraine mit Russland komme, sorge der große Nachbar doch dafür, dass Kultur und Sprache der Russen geschützt werden.

Nach einer Gedenkminute für die »Berkutowzy« zogen die Demonstranten zum Donezker Bahnhof, offenbar in der Absicht, ihn zu blockieren. Nur mit Aktionen des zivilen Ungehorsams könne man sich Aufmerksamkeit verschaffen, erklärte ein Organisator per Megafon.

Die Zahl der Teilnehmer an prorussischen Demonstranten sei jedoch in jüngster Zeit zurückgegangen, schätzte die Chefredakteurin des Donezker Blattes »Krjasch«, Marina Charkowa, im Gespräch mit »nd« ein. Wenn aber Gehälter gekürzt werden und Preise steigen, müsse man mit einem Wiederanschwellen der Protestwelle rechnen.

Für den Großteil der Menschen im Südosten ist Russland auch wirtschaftlich ein Partner, mit dem man sich enge Verbindungen wünscht. Renten und Gehälter sind in Russland doppelt so hoch wie in Donezk. Nicht von ungefähr verdingen sich jedes Jahr mehrere Millionen Ukrainer als Gastarbeiter in Russland.

Dass es an der ukrainisch-russischen Grenze in den letzten Wochen zu Schwierigkeiten bei Verwandtenbesuchen kam, beunruhigt viele Menschen. So berichtet Julia, eine Angestellte, ihre Schwester aus Südrussland habe sie zum 8. März besuchen wollen, sei aber von ukrainischen Grenzbeamten abgewiesen worden. Auch das Gerücht, ukrainische Grenzer würden die Pässe von Bürgern zerreißen, die Verwandte in Russland besuchen wollen, macht die Runde.

Wer heute in der Ukraine den Fernseher einschaltet, sieht rechts oben eine ukrainische Flagge und darunter die Worte »Einiges Land«. Doch wie die Regierung in Kiew die Einheit mit dem Südosten des Landes herstellen will, ist unklar. Dort fühlt man sich durch die Abschaltung russischer Fernsehkanäle und die drohende Abschaffung des Russischen als zweite Amtssprache diskriminiert. Die Regierung in Kiew sei durch einen Staatsstreich an die Macht gekommen, ist die weitverbreitete Meinung. Außerdem wolle man sich von den »Faschisten«, die in der Kiewer Regierung sitzen, keine Vorschriften machen lassen. Schon Väter und Großväter hätten im Zweiten Weltkrieg gegen die Nazikollaborateure in der Westukraine gekämpft. Deshalb sei auch heute die Devise: »Der Faschismus kommt nicht durch.«

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