Augen zu und durch

In Ulm kann man mit einem blinden Guide die Stadt erkunden

  • Jule Schwarz
  • Lesedauer: 4 Min.

Hartmut Dorows Hände tasten über das Dächermeer von Ulm. »Der Metzgerturm müsste noch schiefer sein, und am Schwörhaus fehlt der Balkon«, kommentiert er. »Aber ansonsten ist es ganz wunderbar.« An dem für Blinde gedachten Tastmodell der Stadt beginnt er seine ganz besondere Führung. Veranstaltungen von Blinden für Blinde gibt es viele. Aber nicht von Blinden für Sehende. »Ulm Feeling« heißt die Tour, in denen der 65-jährige Hartmut Dorow Sehenden seine Stadt Ulm zeigt.

»Die Führung von Herrn Dorow ist ein Ergebnis der Arbeitsgruppe Barrierefreier Tourismus Ulm, in dem sich Vertreter aus Tourismus, Sozialeinrichtungen, Behindertenverbänden und Handel austauschen und konkrete Projekte gemeinsam angehen«, erklärt Dirk Homburg, Sprecher der Ulm/Neu-Ulm Touristik GmbH (UNT). »Für uns ist der Rundgang ein tolles, ergänzendes Angebot zu unserem vorhandenen Führungsprogramm.«

»Schauen Sie nach dort!« »Sehen Sie den Münsterplatz?« Wer Hartmut Dorow erlebt, vergisst schnell, dass er mit einem Blinden unterwegs ist. Er versucht, andere Sinne bei Sehenden schärfen - den Geruchssinn beispielsweise. Der Duft nach frischem Brot - und man weiß, dass eine Bäckerei nahe ist. Der Bratengeruch, der auf ein Restaurant hinweist. Die sehenden Teilnehmer der Stadtführung versuchen wenigstens kurzzeitig - nach dem Motto »Augen zu und durch« - sich wie ihr Guide zu orientieren. Durch eine Häuserlücke scheint die Sonne auf die Fußgängerzone. Dorow weiß genau, wann die Sonne welchen Teil erwärmt. »Wir stehen jetzt direkt vor dem Kaufhaus«, sagt er selbstbewusst.

Die Führungen beginnen am Stadtmodell auf dem Münsterplatz, das insbesondere auf den Tastsinn Blinder zugeschnitten ist und enden im Duft- und Tastgarten. Rund 400 Blindenampeln, Rillen und Markierungen auf dem Boden erleichtern Blinden und Sehbehinderten die Orientierung in der Stadt: Ulm zählt zu den blindenfreundlichen Städten Deutschlands. Trotzdem muss Hartmut Dorow sich bei seiner Führung sehr konzentrieren. Deswegen begleitet immer eine zweite, sehende Person die Gruppe. Auch Sehende müssen aufpassen, dass sie im Bann der Stadtführung nicht mit einer Laterne kollidieren oder anderen Passanten in die Beine laufen. Das fällt nicht immer leicht, da Hartmut Dorows Erzählungen sehr interessant und fesselnd sind.

Wie gehe ich mit einem blinden Menschen um? Muss ich besonders Rücksicht nehmen? Fragen, die sich viele Teilnehmer der Führung stellen. Bei Harmut Dorow muss man nicht lange auf die Antwort warten. Auch durch seine Arbeit als Stadtführer hilft er mit, Hemmungen Sehender, mit Blinden umzugehen, abzubauen. Falsche Rücksichtnahme lehnt er ab. »Ich komme in Ulm gut zurecht. Wenn ich Unterstützung wünsche, frage ich einfach.«

Vom Ulmer Münster geht's in Richtung Neue Straße. Fast barrierefrei verlaufen hier die Spuren für Busse, Autos, Fußgänger und Radfahrer. Fast, denn der Straßenrand wird von einer drei Zentimeter hohen Metallkante begrenzt. Die Initiative dazu kam von Hartmut Dorow. »Diese Metallkante ist für uns Blinde sehr wichtig. Mit unserem Langstock merken wir, dass der Bürgersteig hier aufhört. Sonst würden wir ja einfach so auf die Straße laufen.«

Der Weg führt am Rathaus vorbei zum Metzgerturm. »Ich merke am Geruch, dass die Donau nicht mehr weit weg ist«, erzählt Dorow. Im Torbogen bleiben wir stehen. »Fühlen Sie die Steine. Die Form ist ganz typisch für Ulm.« Der Metzgerturm, auch als »Schiefer Turm von Ulm« bezeichnet, neigt sich 2,05 Meter nach Nordwesten. Das ist zwar nicht so stark wie beim Turm von Pisa, dennoch aber ganz beträchtlich.

Die Führung endet im Duft- und Tastgarten. Auf einem Aluminiumschild am Eingang steht in Brailleschrift, was es hier alles zu entdecken gibt. Überall im Garten gibt es solche Wegweiser, um die Blinden auf verschiedene Dinge, wie zum Beispiel Sitzbänke, hinzuweisen. Die Pflanzen wurden überwiegend in Hochbeeten angepflanzt. So können Blinde und natürlich auch Sehende ohne große Anstrengung an den Blumen riechen und sie befühlen. Schmuckstück der Anlage ist ein besonderer Brunnen. Seine speziell geformten Schalen versetzen das Wasser in Schwingungen, die sich mit den Handflächen spüren lassen.

Unweit des Münsterplatzes endet die Führung. Hartmut Dorow verabschiedet sich: »Ich gehe jetzt zur Straßenbahn und fahre nach Hause.« Langsam verschwindet er in der Menschenmenge durch die er sich mit Hilfe seines Langstockes absolut sicher bewegt.

Infos

  • Die Stadtführung »Ulm Feeling« dauert ca. 90 Minuten, findet von Mai bis September jeden letzten Donnerstag im Monat statt und kostet zwei Euro pro Person.
  • Informationen und Buchung: Ulm/Neu-Ulm Touristik GmbH, Tel.: (0731) 161 28 30, E-Mail: info@tourismus.ulm.de, www.tourismus.ulm.de
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