Dauerläufer und Beichtstühle

Die neue Lust, die Völlerei zu besiegen: Warum Calvin das Joggen verboten hätte

  • Velten Schäfer
  • Lesedauer: 5 Min.

Geiz? Ist doch längst »geil«. Habgier? Eine immaterielle Produktivkraft! Luxus? Lohn der »Leistungsträger«. Hochmut? Währung für Talkshowgäste. In der säkularen Gesellschaft scheinen die christlichen Todsünden ausgedient zu haben. Nur eine auf den ersten Blick nicht: »Gula«, die »Völlerei«, Gefräßigkeit, die Selbstsucht und Maßlosigkeit, der unkontrollierte, überzogene oder auch der Genuss überhaupt.

Dass das so erscheint, kann nicht verwundern. Schließlich wurde der Kapitalismus, der unser Maß von Weltlichkeit bestimmt, von Taliban ins Werk gesetzt: Von religiösen Fundamentalisten also, die zwar die Weihemauern hinter sich gelassen hatten - jedoch nur, um gleich die ganze Welt zum Kloster zu erklären. Von Leuten wie Johannes Calvin, der in seinem Genfer Gottesstaat (1555-1565) Widersacher und Sünder hinrichten ließ und noch auf seinem Sterbebett gegen »Schlangen« und Lüstlinge gewettert haben soll.

Auch wenn die Soziologie in ihrer Ableitung des »Geistes des Kapitalismus« aus der »protestantischen Ethik« vielleicht ein wenig übertreibt - Calvin war immerhin auch der Ansicht, von Armen dürfe kein Zins genommen werden -, sind es die Grundzüge seiner Lehre, die unternehmerisches Denken religiös und moralisch untermauerten und als Normen gesellschaftlich verankerten: Eine Auffassung der Arbeit als »Ethos« und Selbstzweck oder ein Verständnis beruflichen Erfolgs als Lohn der guten Lebensführung sowie als Zeichen von Gottgefälligkeit haben die Verweltlichungen des 19. Jahrhunderts überstanden und sind Grundwerte der Moderne geworden.

Wenn auch in einer zwiespältigen Weise. Nie haben die Menschen nämlich einerseits so sehr der Völlerei gefrönt wie in der »entwickelten« Industriegesellschaft. Und nie haben sie sich zugleich doch so sehr dafür geschämt.

»Work hard, play hard!«, also hart arbeiten und wild feiern, hieß noch der paradoxe Imperativ der 1990er Jahre. Wobei der Exzess nur so lange angesehen war, wie das Bier, der Joint, die Pillen im Büro »verdient« wurden. Solange man über die an Bars und auf Tanzflächen Torkelnden bewundernd sagen konnte: »Unter der Woche hat er einen 12-Stunden-Tag.« Und um beides überhaupt vereinen zu können, quälte sich der Mensch mit »Fitness« - was ja nichts anderes bedeutet als »Wahrung von gesellschaftlicher Passform«.

Des modernen Menschen Bußritual ist das Schwitzen auf der Hantelbank oder auf dem Laufband. Genuss ist stets zu rechtfertigen, er hat mit Mühsal und Kasteiung einherzugehen - und zwar in einer dauerhaften Prozedur. Den Beichtstuhl der Katholiken nämlich, das bequeme Vergebungsmöbel, in dem man sich durch Gestehen und ein paar Rosenkränze der Sünde entsagen konnte, lehnte Calvin strengstens ab.

Bis in die Gegenwart, könnte man also meinen, hat uns Calvins Schreckensherrschaft nicht losgelassen. Jüngst allerdings scheint sich das Rad sogar noch weiter zu drehen.

Die Buße, schrieb nämlich Calvin, bestehe »aus zwei Stücken«: der »Abtötung des Fleisches und der Erneuerung durch den Geist«. In diesem Denken ist der Kampf gegen den »inneren Schweinehund«, gegen das »Fleisch«, den empfindenden und begehrenden Leib eine rein negative, geradezu repressive Operation: Der Körper muss ausgeschaltet werden, damit der Geist vermeintliche Freiheit genießen und Wahrheit erkennen könne. Die calvinistische Buße ist negativ, ist Selbsterziehung durch Entsagung, ist Feindschaft gegenüber dem Körper.

Für manche Opfer der Fitnesskultur mag das weiterhin zutreffen. Für diejenigen nämlich, die vom tatsächlichen oder gewünschten Partner, vom Hausarzt oder der Apothekenzeitschrift auf das Laufband gezwungen werden. Doch nun scheint sich Fitness aus diesem negativen, disziplinarischen Szenario zu lösen. Immer mehr Nordicwalker, Laufradkunden und Hantelstemmer erleben ihr Tun keineswegs als Zwang oder Buße - sondern längst selbst als reines Vergnügen.

Die Übung dient also nicht mehr der »Abtötung« des Fleisches, wie sie Calvin vorschwebte oder den Akteuren des traditionellen Sports, die sich »für den Sieg quälen«. Sie ist ihrerseits zur Lust geworden - und das, obwohl es nichts zu gewinnen gibt. Wünschte noch der römische Satiriker Juvenal in seinem berühmten (und in der Regel falsch verstandenen) Bonmot, es möge doch in all den gesunden, schönen Körpern ein »gesunder Geist« einziehen, gilt heute der attraktive, geübte Körper nicht nur als Selbstzweck oder Ausweis eines geglückten Lebens, sondern wird zunehmend genossen. Aus diesem Grund sind zeitgenössische Dauerläufer nicht einfach die letzten Opfer des Genfer »Zwölferrats«. Vermutlich hätte derselbe Joggen und Fitness sogar verboten. Aus der Selbstbestrafung der religiösen Übungen ist eine Lust geworden, die sich selbst schon anschickt, Religion zu werden.

Die jüngste Körperkonjunktur zeigt insofern an, wie sich die Subjekte von einer George-Orwell-Logik in Richtung eines Aldous-Huxley-Szenarios bewegen. Sozialisation in Disziplin und Gehorsam wird abgelöst vom Genuss der eigenen Konformität, vom freudvoll körperlich eingeübten Wollen des Sollens.

Nichts könnte dies drastischer beleuchten als jene Dauerlauf-Bordcomputer, mit denen heute so viele ihre Übungen bis ins Detail analysieren und ins Internet stellen. Niemand zwingt sie, sich den prüfenden Augen Hunderter Facebook-Kontakte zu unterwerfen. Die in diesem Sinn ganz und gar grausige Logik der »Self Tracking Gadgets« hat die Frankfurter Sportsoziologin Stefanie Duttweiler jüngst in einem einzigen, nur scheinbar harmlosen Satz auf den Punkt gebracht: »Gesundheit darf heute auch Spaß machen.«

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