Oh Gott, wie peinlich!

Warum Menschen auch in der Öffentlichkeit oft jedes Schamgefühl vermissen lassen

  • Martin Koch
  • Lesedauer: 6 Min.

Eines der unangenehmsten menschlichen Gefühle ist Scham. Anlässe dafür gibt es bekanntlich zuhauf: Jemand fährt schwarz mit der U-Bahn und wird erwischt. Einem anderen wird wegen erwiesenen Plagiats der Doktortitel aberkannt. Und wieder ein anderer schämt sich, weil er das Gesicht voller Pickel hat.

Die intensivsten Schamgefühle sind jedoch traditionell mit Nacktheit und Sexualität verbunden. Davon kündet bereits die Schöpfungsgeschichte der Bibel. Im Garten Eden, heißt es dort, waren Adam und Eva nackt, ohne sich daran zu stören. Erst nachdem beide vom Baum der Erkenntnis genascht hatten, erkannten sie ihre Nacktheit - »und sie hefteten Feigenblätter zusammen und machten sich einen Schurz«.

Tatsächlich steht das Wort »Scham« nicht nur für eine unangenehme Gefühlsregung, sondern auch für die äußeren Genitalien, die Menschen normalerweise vor anderen zu verbergen trachten. Dass sich dieses Bemühen in allen bekannten Kulturen beobachten lässt, deutet darauf hin, dass Scham nicht das Produkt einer repressiven Sexualmoral ist, wie der von den 68ern hoch geschätzte Psychoanalytiker Wilhelm Reich glaubte, sondern eine anthropologische Konstante, wie Charles Darwin vermutete.

Warum aber haben Menschen überhaupt ein Schamgefühl entwickelt? Im Gegensatz übrigens zu Tieren, die - von Ausnahmen abgesehen - keine Neigung verspüren, ihre »Nacktheit« bzw. ihre sexuellen Interaktionen vor Artgenossen zu verbergen. Diese Frage ist nicht abschließend beantwortet. Es gibt jedoch Versuche, die Entwicklung des menschlichen Schamgefühls an den Erwerb des aufrechten Gangs zu knüpfen. Denn als unsere Vorfahren von der vier- zur zweibeinigen Fortbewegungsweise übergingen, hatte dies zur Folge, dass ihre äußeren Genitalien unmittelbar in das Blickfeld anderer gerieten. Und damit leicht verletzbar waren.

Da eine solche Gefahr vor allem für Männer bestand, dürften diese schon frühzeitig versucht haben, ihren Penis durch eine Art Kleidungsstück zu schützen. Damit entfiel zugleich die entscheidende Voraussetzung für das sogenannte Phallusdrohen, das Imponieren mit erigiertem Glied, das in Gruppen nichtmenschlicher Primaten für erhebliche Unruhe sorgt. Aber auch für Frauen war es von Vorteil, wenn sie ihre körperlichen Reize nur jenen Männern freizügig offenbarten, mit denen sie sexuelle Kontakte wünschten. Im Endeffekt trug die Erfindung der Scham also dazu bei, die sexuellen Spannungen in der Gruppe abzubauen und so deren Zusammenhalt zu stärken.

Im Verlauf der Geschichte sind die Anlässe, derentwegen Menschen sich schämen, vielfältiger geworden. Nicht nur Verletzungen der Intimsphäre, auch Verstöße gegen soziale Normen und moralische Werte können Schamgefühle auslösen, die mitunter so heftig sind, dass die Betroffenen vegetative Reaktionen zeigen. Manche erröten oder bekommen Herzrasen. Andere wenden den Blick ab und möchten am liebsten im Erdboden versinken. Für den Soziologen Norbert Elias war das historisch nachweisbare »Vorrücken der Schamschwelle« zugleich ein wesentliches Element von Zivilisation, die unter anderem auf der Fähigkeit des Menschen beruht, äußerliche bzw. Fremdzwänge in Selbstzwänge zu transformieren.

Einen Schritt weiter noch geht der »Zeit«-Autor Ulrich Greiner, der in seinem kenntnisreich geschriebenen Buch »Schamverlust« den historischen Wandlungen der Schamkultur in Literatur und Gesellschaft nachspürt. Für ihn ist Scham »die Bedingung von Moral schlechterdings« und somit ohne Gewissen nicht denkbar. Denn für etwas schämen kann sich ein Mensch auch dann, wenn niemand von seinem schamwürdigen Verhalten weiß. Dagegen sei das schwächere Gefühl der Peinlichkeit an einen anwesenden Zeugen gebunden, so Greiner: »Ich bin unpassend gekleidet, habe ein Rotweinglas umgestoßen oder eine Person versehentlich brüskiert.« Das heißt, anders als Scham, die uns nach einer Verletzung ethischer Normen überkommt, resultiert Peinlichkeit aus einem Verstoß gegen soziale Konventionen. Theoretisch ist eine solche Unterscheidung durchaus sinnvoll. Nur leider sind im Alltag Scham und Peinlichkeit oft so eng verwoben, dass es schwer fällt festzustellen, ob jemandem ein missliches Verhalten »nur« peinlich ist, oder ob er sich deswegen schämt - aus Gründen, die eventuell nur der Betreffende selbst kennt.

Gänzlich verfehlt hingegen wäre es, wollte man etwa im Anschluss an Elias von der Höhe der Schamschwelle auf den Zivilisationsgrad einer Gesellschaft schließen. Bekanntlich sind die 68er mit ihrem »Schamvernichtungsprojekt« gescheitert. Dennoch gehört es zu ihren Verdiensten, dass sich in der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts mit der Auflösung tradierter Werte und Konventionen auch die Schamgrenzen deutlich nach unten verschoben haben. So findet man in Deutschland heute immer weniger Menschen, die sich ihrer sexuellen Orientierung wegen oder auf Grund körperlicher Auffälligkeiten schämen.

Mehr noch hat »demonstrative Schamlosigkeit« (Greiner) inzwischen Kultstatus erreicht. Man denke etwa an die US-Popsängerin Lady Gaga, die bei einem öffentlichen Auftritt ein Kleid trug, das aus Rindfleischfetzen zusammengefügt war. Oder an den Roman »Feuchtgebiete« von Charlotte Roche, dessen Fäkal- und Ekelromantik sogar vom deutschen Feuilleton gelobt wurde.

Es sind aber nicht nur Prominente, die lustvoll die Schamgrenzen überschreiten. Auch andere Zeitgenossen nutzen das, was früher ausschließlich der Privatsphäre zugehörte, zur öffentlichen Selbstdarstellung. Namentlich in TV-Shows geben Männer und Frauen ihre intimsten Geheimnisse preis oder machen sich mit anderen Capricen zum Gespött eines Millionenpublikums. Am Ende bleibt häufig nur Ratlosigkeit: Warum in Teufels Namen tut jemand so etwas? Schon 1950 kam der US-Soziologe David Riesman zu dem Schluss, dass unsere Gesellschaft vermehrt »außengeleitete Menschen« hervorbringt. Menschen also, die nicht vorrangig nach verinnerlichten Wertmaßstäben leben, sondern süchtig sind nach Bestätigung, und sei diese noch so zweifelhaft. Für außengeleitete Menschen, so Riesmann, »ist die Anerkennung an sich, unabhängig von dem, was anerkannt wird, die einzig eindeutige Erfolgsnorm«. Das erklärt vielleicht, warum vielen Leuten kaum noch etwas peinlich ist. Hauptsache es hilft ihnen, vorübergehend ins Rampenlicht der Öffentlichkeit zu treten.

Empfinden Menschen heute also tatsächlich weniger Scham als noch vor 50 Jahren? Diese Frage ist nicht einfach mit Ja oder Nein zu beantworten. Denn während es einerseits vielen opportun erscheint, gleichsam exhibitionistisch alle Schamgrenzen zu überschreiten, hat der soziale Zwang zur Perfektionierung neue Formen von Scham hervorgebracht.

Es ist vor allem die Angst, nicht mehr zu genügen, die bei Menschen Scham auslöst. In den USA wurden Hunderte von Frauen gefragt: Wofür oder warum schämen Sie sich? Weil ich zu dick bin, weil ich keine perfekte Mutter bin, weil ich nicht mehr sexy genug bin, lauteten einige der häufigsten Antworten, die man zum Teil wohl auch in Deutschland zu hören bekäme.

Männer schämen sich dagegen eher für ihr persönliches Versagen. Oder genauer gesagt für das, was sie für ein solches Versagen halten. Viele nennen deshalb Arbeitslosigkeit als Schamgrund. Bei manchen Männern ist das damit verbundene Gefühl der sozialen Entwertung so stark, dass sie nicht einmal fähig sind, sich ihrer Familie zu offenbaren. Aber auch die Herablassung, mit der Arbeitslose und Hartz-IV-Empfänger hierzulande behandelt werden, ist ein Scham auslösender Faktor, der die Betroffenen oftmals veranlasst, sich ganz aus der Öffentlichkeit zurückzuziehen.

Ulrich Greiner: Schamverlust. Vom Wandel der Gefühlskultur. Rowohlt Verlag, 349 S., 22,95 €.

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