Henri kann nicht sitzenbleiben

Im badischen Walldorf will man einem Kind mit Down-Syndrom den Besuch des Gymnasiums verwehren

  • Norbert Demuth
  • Lesedauer: 3 Min.
Kann ein elfjähriger Junge mit Down-Syndrom von der Grundschule aufs Gymnasium wechseln? Der »Fall Henri« scheidet derzeit in Baden-Württemberg die Geister.

Der elfjährige Henri Ehrhardt aus dem badischen Walldorf hat das Down-Syndrom. Wenn es nach seinen Eltern geht, soll der geistig behinderte Junge dennoch im kommenden Schuljahr von der Grundschule aufs Gymnasium in Walldorf wechseln. Doch das Gymnasium lehnt dies bisher ab, weil das Kind vom Lernstoff überfordert würde. Inzwischen sorgt der »Fall Henri« bundesweit für Aufregung. Manche sprechen schon von einem »Kulturkampf«.

Die Eltern, aus deren Sicht die Debatte um ihren Sohn teilweise absurde Züge trägt, geben nicht auf. Henris Mutter, Kirsten Ehrhardt, sagte dem Evangelischen Pressedienst: »Ich bin schon überrascht über den Aufschrei der Gymnasiallobby.« Diese sehe das Gymnasium allein als Lernort für eine Elite. Bei der Umsetzung der Inklusion - also dem gemeinsamen Unterricht von behinderten und nicht behinderten Kindern in einer Regelschule - sei Baden-Württemberg »noch ein Entwicklungsland«. Es gebe in Deutschland mindestens zehn Gymnasien, in denen Kinder mit geistiger Behinderung zur Schule gingen, davon mehrere Kinder mit Down-Syndrom, sagte Ehrhardt.

Landeskultusminister Andreas Stoch (SPD) warnt vor der Gefahr, dass das Wohl des Kindes aus dem Blick gerate. Einer Ministeriumssprecherin zufolge sei das Schulamt Mannheim im Moment dabei, eine sogenannte Bildungswegekonferenz vorzubereiten, die noch im Mai stattfinden soll. Dabei werde nach »alternativen Bildungsangeboten« gesucht. Zur Konferenz sind Eltern, beteiligte Schulen, Schulträger, Vertreter von sonderpädagogischen Einrichtungen sowie Leistungs- und Kostenträger eingeladen.

Die Gegner von Henri Ehrhardts Gymnasialbesuch betonen, dass das Down-Syndrom-Kind das Abitur niemals schaffen könne. Doch seine Mutter hält dagegen, dass dies auch gar nicht das Ziel sei: »Natürlich schafft er nicht das Abi, aber er schafft auch keinen Realschulabschluss oder Hauptschulabschluss.« Ihre Hauptmotivation, Henri auf ein Gymnasium zu schicken, liegt darin, dass er nur so mit seinen Schulfreunden zusammenbleiben könne. »Wir wollen, dass er nicht durchgereicht wird an irgendeine Schule, wo er keinen einzigen seiner nichtbehinderten Freunde aus seiner Klasse mehr hat«, sagt Kirsten Ehrhardt.

Das Argument der Lehrergewerkschaft VBE, dass Henri im Gymnasium das Schulziel nicht erreichen, immer wieder sitzenbleiben und somit seine Freunde verlieren könnte, hält die Juristin Ehrhardt für irreführend. »Bei der Inklusion geht er immer in die nächste Klasse mit.« Er könne also gar nicht sitzenbleiben, da er als »Inklusionskind« am Gymnasium eigene Lernziele habe.

Auch Elterninitiativen für Inklusion aus Nordrhein-Westfalen schauen »fassungslos« nach Baden-Württemberg: »Wir finden es zutiefst verstörend, dass Menschen in Deutschland wegen der Einschulung eines Jungen mit Down-Syndrom an einem Gymnasium meinen, eine Art Kulturkampf anzetteln zu müssen«, betonte Eva-Maria Thoms vom Elternverein »mittendrin e.V.«. Es sei »erschütternd, dass selbst hoch gebildete Menschen sich Schulunterricht offenbar nur als Veranstaltung vorstellen können, in der alle Schüler im Gleichschritt einen Durchschnitts-Lernstoff pauken.«

Neben den Ehrhardts wünschen Eltern von zwei weiteren körperlich behinderten Kindern, dass ihre Kinder, die gemeinsam in die Grundschule in Walldorf gehen, künftig auch zusammen am Gymnasium des Ortes unterrichtet werden.

Nach Angaben seiner Mutter kann Henri derzeit auf dem Niveau eines Zweitklässlers lesen, er kann alles abschreiben, kennt alle Buchstaben, rechnet bis 20 relativ sicher und erschließt sich gerade den Zahlenbereich bis 100. Er fange jetzt an, kleine Sätze selbst zu schreiben. Und zwar - seit seiner Erstkommunion - »am liebsten über den Papst«. epd

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