»Die Zeit stirbt nicht«

Verena Stefan hat ein berührendes Buch über ihren Großvater geschrieben

  • Werner Jung
  • Lesedauer: 3 Min.

In einer kurzen Nachbemerkung berichtet die Schweizer Autorin über den Anlass und die Entstehung ihres neuen Romans. Sie habe ein Buch über ihren Großvater schreiben wollen, der verstorben sei, als sie gerade mal fünf Jahre war. Aber mehr noch als das habe sie »aus der Erinnerung an ein Lebensgefühl, das in heiße Sommer eingebettet war, aus den Erzählungen der Familie und einigen Hinweisen aus den Tagebüchern meiner Mutter« das Leben des Großvaters »erfunden und Kunstfiguren geschaffen, die eine fiktive Familie bilden«.

Das weckt Assoziationen an Prousts Recherche oder andere Großprojekte von Kindheits- und Erinnerungsbüchern. Dasjenige allerdings, was Verena Stefan in ihrem Roman erzählt, wirkt einerseits reduziert auf einige wenige punktuelle Momente und ist andererseits doch auch wieder um eine äußerst detaillierte Beglaubigung bemüht, denn sie zitiert ausführlich aus Verhörprotokollen und Krankenakten. Jahrzehntelang hat Julius Brunner das eher zurückgezogene Leben eines Landarztes geführt - mit Frau, Kindern und Enkeln in einem üppigen Haus. »Das Haus ist groß genug, um für alle Platz zu bieten, ihre Großeltern, Eltern und Frieder, ihren Bruder. Siebzehn Türen kann sie aufschieben, aus einundzwanzig Fenstern schauen, vier Treppen auf- und abstapfen. Man weiß nie, woher der Wind weht.«

Doch hat dieser Großvater eine dunkle Seite, aus der er auch gar keinen Hehl macht: Er nimmt nämlich Abtreibungen vor. Aus einem tiefen inneren Anliegen heraus oder nur aus ökonomischem Zwang? Es bleibt offen, wie vieles andere auch bloß angedeutet wird und Leerstellen die Erzählung markieren, was immer schon einen besonderen Reiz von Verena Stefans Texten ausgemacht hat. Jedenfalls wird der Großvater zum Ende seines Lebens wegen eben dieser Abtreibungspraxis in eine psychiatrische Anstalt eingewiesen, in der sein Gesundheitszustand überprüft werden soll.

In weiten Teilen handelt der Roman von den Gesprächen des Psychiaters mit dem Landarzt, wobei die Autorin geschickt die Gesprächssituation nutzt, um ihren Großvater in Assoziationsschüben Stationen seines Lebens berichten zu lassen: über Erfahrungen im Ersten Weltkrieg, die Ehe mit einer Frau, die der eigenen Familie nicht gepasst zu haben scheint, viele Entbehrungen und den Verlust zweier Kinder.

Schließlich wird der Großvater - todkrank - entlassen: »Er ist froh, dass Winter ist; niemand hält sich auf der Straße auf. Bei Bachmanns ist Licht im Stall, bei Küfers nebenan auch. Sein Leben endet wie im Märchen: Als wüster, abgewirtschafteter Mann kommt er zum Sterben nach Hause, und was ist? Als Erstes wird ihm das jüngste Enkelkind entgegenspringen.«

Verena Stefan hat ein stilles Buch über eine kurze Phase ihrer Kindheit geschrieben, wobei der Titel etwas Doppeldeutiges an sich hat, da Zeit zum einen die ganz konkrete historische Situation, die endvierziger Jahre des 20. Jahrhunderts, meint, zum anderen aber die existenzielle, subjektive Zeit angesprochen wird: »Julius öffnet die Augen. Die Zeit stirbt nicht. Am Ende ist immer die Zeit. - Hast du die Riesin schon einmal gesehen? - Niemand sieht sie, sagt Julius. Sie ist überall, wie die Luft. - Die Luft kann ich doch sehen! - Julius hat wieder die Augen geschlossen. Du musst warten. Du musst so lange warten, bis du vergessen hast, dass du sie sehen willst, dann ist die plötzlich da. - Man sieht nur die Spuren der Zeit, sagt er noch, bevor ihm das Kinn wieder auf die Brust sinkt und er einnickt.«

Verena Stefan: Die Befragung der Zeit. Roman. Nagel und Kimche. 224 S., geb., 18,90 €.

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