Unvollkommen, aber formbar

Klaus Hänsch sieht mit der Europawahl Richtungsentscheidungen zur Zukunft der EU verbunden

  • Klaus Hänsch
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Klaus Hänsch (Jg. 1938) war von 1979 bis 2009 Europaabgeordneter für die SPD. Von 1994 bis 1997 war er zudem Präsident des Europäischen Parlaments.
Klaus Hänsch (Jg. 1938) war von 1979 bis 2009 Europaabgeordneter für die SPD. Von 1994 bis 1997 war er zudem Präsident des Europäischen Parlaments.

Als ich 1979 zum ersten Mal ins Europäische Parlament gewählt wurde, hatte es eine Menge zu sagen, aber fast nichts zu entscheiden. Als ich es vor fünf Jahren wieder verließ, war es zum Gesetzgeber der Union geworden und konnte den Präsidenten der EU-Kommission wählen. Innerhalb einer Politikergeneration ist aus dem Beratungsparlament ein Entscheidungsparlament geworden. Für diesen Weg haben die nationalen Parlamente mehr als 100 Jahre gebraucht.

Bei der anstehenden Wahl geht es nicht nur um die Besetzung einer Spitzenposition - so wichtig sie ist. Es geht auch um Richtungsentscheidungen. Die Frage ist: Wird weiterhin eine Hundertschaft von schnöseligen Finanzdealern mit dem Schicksal von 500 Millionen Europäern Monopoly spielen können? Oder werden demokratisch gewählte Regierungen und das Europäische Parlament wieder über die Zukunft Europas entscheiden? Die Antwort geben die Mehrheiten in den Mitgliedsstaaten und im Europäischen Parlament.

Die EU ist dabei, die schwerste Krise seit dem Beginn der Einigung Europas zu überwinden. Vor allem im Süden leiden noch Millionen Menschen. Aber in den Krisenstaaten erhellt sich der Horizont. Sie gewinnen den Teil ihrer nationalen Souveränität zurück, den sie an die internationalen Finanzmärkte und Banken verloren hatten.

So viel ist klar: Die weltweite Spekulation gegen den Euro hat verloren. Und verloren haben Hunderte von Wirtschafts- und Finanzprofessoren, die Inflation, Haftungsschäden und den Zusammenbruch des Euro herbeiprophezeien wollten. Gewonnen hat die EU. Sie ist zusammen geblieben ist. Und über die Prävention der nächsten Krise entscheidet auch die Mehrheit im neuen Parlament.

Der Kampf gegen die Jugendarbeitslosigkeit im Süden Europas kostet mehr Geld, als die EU zur Verfügung hat. Da müssen die Mitgliedsstaaten schon selbst ran. Sonst verlieren wir alle eine ganze Generation - und mit ihr die Zukunft Europas. Mit Sparen allein kommt der Süden Europas nicht aus der Krise. Er braucht europäische Hilfe.

Mit den Arbeitslosen müssen wir solidarisch sein. Mit Steuerflüchtigen und Steuerhinterziehern können wir es nicht - egal ob sie in Athen, am Tegernsee oder in den Konzernen sitzen. Sie nehmen den Staatskassen in der EU jedes Jahr fast eine Billion Euro an Steuern weg. Diese Enteignung des Staates durch die Reichen ist keine Systemfrage, sondern eine Gesetzgebungsfrage. Wie sie für Europa beantwortet wird, hängt, so oder so, auch vom neuen Parlament ab.

Die EU muss gegen alle verteidigt werden, die aus ihr eine bloße Freihandelszone machen wollen - ohne jede politische Verantwortung für den Schutz der Umwelt, der Verbraucher, der sozialen Sicherheit. Wenn Europa sich zur Freihandelszone zurückentwickelt, marschiert es über den Neoliberalismus geraden Wegs in den Neonationalismus. Faschistisches und nationalistisches Denken und Handeln, Rassismus und Intoleranz müssen auf den entschlossenen Widerstand aller Demokraten stoßen - überall in Europa. Wer in der Zeit der Krise die Völker auseinandertreiben statt zusammenhalten will, gehört nicht ins Europäische Parlament.

Über das zu Recht umstrittene Freihandelsabkommen mit den USA wird das Parlament das letzte Wort haben. Wer hätte gedacht, dass die vielfach gescholtenen EU-Regulierungen es Wert sind, verteidigt zu werden? Den Konflikt in der Ukraine kann es nicht entscheiden. Aber es kann seine Stimme für Recht und Gerechtigkeit erheben und darauf achten, dass die Einheit der EU wichtiger ist als die der Ukraine. Und den stillschweigend gehegten geopolitischen Größenwahn aufgeben, Frieden, Freiheit und Demokratie durch Erweiterung zu verbreiten.

In der Welt ist die EU für viele Millionen Menschen ein Beispiel der Versöhnung zwischen Feinden, des Wohlstands durch Zusammenarbeit, der Garantie von Freiheit und Recht über Landesgrenzen hinweg. In Europa haben Skandalisierung und Diffamierung der Institutionen und der Politik in Brüssel und Straßburg eine lange Tradition. Wer Verstand und Sinne beisammen hat, lässt sich durch Halbwahrheiten und Unterstellungen nicht irritieren. Wahr ist, dass die EU unvollkommen ist, aber gerade deshalb ist sie formbar. Sie wird nicht, was wir träumen, sie wird, was wir tun. Deshalb klappe ich am 25. Mai den Laptop zu, stehe vom Sofa auf und gehe wählen.

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