Menschen mit steifer Mütze

1930 kam ein junger Franzose nach Magdeburg. Was er dort erlebte, publizierte er unter dem Titel »Philisterburg«

  • Thomas Blum
  • Lesedauer: 7 Min.

Der französische Gastlehrer fragt seine 17-jährigen deutschen Schüler, was sie von Heine halten. »Heine ist kein Deutscher«, bekommt er zur Antwort. »Warum?«, fragt der Lehrer nach. »Er ist Jude. Sein Talent hat nichts Deutsches. Er gehört nicht zu den Unseren.«

Sucht man im Internet nach Informationen über den hier zitierten Lehrer, Jaques Decour, mit bürgerlichem Namen Daniel Decourdemanche, findet man nicht viel: Dass es sich um einen französischen Schriftsteller handle, so erfährt man, einen Germanisten, einen Intellektuellen, der 1936 der Kommunistischen Partei beitrat, Chefredakteur der Zeitschrift »Commune« wurde und während des Zweiten Weltkriegs in der Résistance war, wo er gemeinsam mit anderen versuchte, den akademischen Widerstand gegen den Hitlerfaschismus zu organisieren. 1942 wurde der heute in der Vergessenheit Versunkene als junger Mann hingerichtet, im Alter von 32 Jahren.

In der Bundesrepublik interessierte man sich nicht für ihn. In der DDR wurde ein Ferienheim des FDGB nach ihm benannt. In Magdeburg brachte man zu seinen Ehren 1961 eine Gedenktafel an. Im Stadtarchiv findet man Folgendes: »Da weder bei den Verwaltungsstellen noch bei den Bibliotheken und Archiven bisher über das Wirken dieses französischen Patrioten in Magdeburg etwas bekannt ist, soll durch eine würdige Veranstaltung (...) die Magdeburger Lehrerschaft und Schuljugend und darüber hinaus die gesamte Bevölkerung mit seinem Leben und Wirken vertraut gemacht werden.«

Als zwanzigjähriger Jüngling hat Decour eine für die Zeit ungewöhnliche, hellsichtige Schrift verfasst, »Philisterburg«, erstmals 1932 erschienen, ein Zwischending aus autobiografischem Bericht und Reiseerzählung, in der er seine persönlichen Erinnerungen als Franzose im präfaschistischen Deutschland festgehalten hat.

Im Jahr 1930 kam er im Rahmen eines Austauschprogramms für mehrere Monate als Deutschlehrer ans Magdeburger Domgymnasium. Der Vater hatte sich zwar von seinem Sohn erhofft, dieser werde eines Tages Börsenmakler wie er selbst, doch der junge Jaques hatte ganz und gar anderes im Sinn: Er hatte eine Vorliebe für die deutschsprachige Literatur, schwärmte für die Dichter der deutschen Romantik, las Goethes Werke und hielt - im Gegensatz zu vielen seiner Landsleute und deren ausgeprägter Skepsis gegenüber den Deutschen - an einem idealisierten Deutschlandbild fest: »Wer das Lächeln Heines und den Ernst Goethes, diese beiden Haltungen, versöhnte, würde wohl den richtigen Ton treffen.«

Doch als er nach Magdeburg kommt und das Land, das die von ihm so verehrte Kultur hervorgebracht hat, zum ersten mal selbst in Augenschein nimmt, trifft er zu seinem wachsenden Erstaunen auf eine Bevölkerung, die mit Republik und Demokratie nichts anzufangen weiß, sich »Ordnung, Strenge, Härte wünscht und bereit ist, sich der Ordnung, der Strenge und der Härte zu unterwerfen«. Der junge Franzose, der ein Deutschland verehrt, das er nur aus der Literatur und Philosophie kennt, sieht sich, endlich angelangt an seinem Sehnsuchtsort, überraschend »Persönlichkeiten mit geschlossenem, ja gepanzertem Weltbild« gegenüber, »die sich aller ihrer Urteile sicher sind, gerade weil sie sie von andern übernommen haben«, wie der Übersetzer Stefan Ripplinger im Vorwort der ersten deutschen Ausgabe von »Philisterburg« schreibt.

Decour nimmt die Fixierung der Deutschen auf staatliche Autoritäten, ihren Untertanengeist sehr genau wahr: »Statt an die Leine genommen zu werden, erhielten sie nun Wahlzettel. Dass sie nicht mehr an der Leine sind, bedauern viele, und viele wissen nicht, was sie mit einem Wahlzettel anfangen sollen.«

Schon bei der Einführung des jungen Franzosen im Lehrerkollegium (»alle sind sie alte Krieger«), wo er sich »vierzig Lehrern mit ernsten Gesichtern« gegenübersieht, protestantischen Moralpredigern und aus dem Wilhelminismus übriggebliebenen autoritären Charakteren, ahnt er, mit was für einer Sorte Pädagogen er es zu tun bekommt: »Ein jeder schlug seine Hacken zusammen, verbeugte sich und nannte seinen Namen (…) ich habe nur 25 Kneifer oder Brillen und 15 Glatzen zählen können.«

Anfangs ist Decour noch blind für die sich immer stärker zeigenden Sympathien der Deutschen für den Nationalsozialismus. »Nicht voreingenommen« zu sein, nimmt er sich vor. Vielmehr mühe er sich, »hier nur bescheidene, wahre Fakten aufzuzeichnen«, schreibt er. »Wenn ich überhaupt voreingenommen bin, dann für Deutschland.« Denn schließlich handle es sich bei dem deutschenfeindlichen Geschwätz der Franzosen um so dumme »Gemeinplätze« wie etwa den, die Deutschen strebten »die Weltherrschaft an«. Den immer fanatischer sich gerierenden, wachsenden Nationalismus in seiner Umgebung begreift der junge Lehrer daher zuerst nur als trotzige Reaktion auf die Niederlage des Deutschen Kaiserreichs im Ersten Weltkrieg. Was ihm allerdings nicht entgeht, ist die Geltungssucht der Deutschen, ihr enormes Bedürfnis nach Zugehörigkeit zu einer Gemeinschaft, ihre Obsession von Korpsgeist und Kollektiv. Decour schreibt: »Was für eine Freude am Titel, am Förmlichen! (…) Noch das ärmste Wesen, mag es auch (wie der Müllmann) im gegenwärtigen gesellschaftlichen Gefüge ganz unten stehen, leitet aus seiner steifen Mütze eine Stellung, eine öffentliche Funktion, eine soziale Rolle, eine Persönlichkeit ab (…) Hierzulande scheinen Kleider Leute zu machen. Der Anzug ist ein Schutzwall gegen die Außenwelt. Jedenfalls trägt er zum Klassenbewusstsein oder Gruppengefühl bei und dazu, den Individualismus zu bekämpfen.«

Eines Morgens muss der junge Lehrer beobachten, wie SA-Trupps singend durch die Straßen marschieren, und notiert das Geschehen, nicht ohne dabei Spuren von Faszination bei sich selbst wahrzunehmen: »Dass so viele Stiefel gleichzeitig aufs Pflaster stampften, der Block dieser kräftigen Stimmen, der heitere Anblick dieser Muskeln und dieser ruhigen Gesichter vermittelte den Eindruck einer beherrschten Kraft (…) immer stärker wurde ich von der Gemeinschaftsstimmung, die sie einflößten, mitgerissen, um ein Haar hätte ich mitgesungen. Auch die kleine Küchenhilfe, die am Rand des Bürgersteigs stand und seit nunmehr fünf Minuten mit ausgestrecktem rechtem Arm salutierte, erschien mir nicht mehr lächerlich.« Allerdings ist Decour alles andere als naiv oder ignorant. Er hat begriffen, dass Hitlers Partei von genau dem Kapital finanziert wird, »das zu verabscheuen er vorgibt«. Und das »recht wirre« politische Programm des Nationalsozialismus, um den sich ausschließlich »Feinde von Volksrepublik, Materialismus, Freiheit« scharen, weiß der junge Austauschlehrer bereits 1930 relativ exakt darzulegen, wenn er auch nicht dessen mörderischen Vernichtungswillen vorauszusehen vermag: »Die Zukunft des Vaterlandes soll von der Reinheit der Rasse abhängen (…) Alle Juden werden vertrieben werden.«

Eine der prototypischen Figuren, mit denen Decour sich in seinem Magdeburger Alltag wiederholt konfrontiert sieht und bei denen es sich um »junge Greise, farblose Gemeinschaftsmenschen« (S. Ripplinger) mit schlichten Gemütern handelt, ist der kaufmännische Angestellte Adler, der stellvertretend für eine ganze Generation steht, die Deutschland von Feinden umgeben und sich selbst im Besitz einer unumstößlichen Wahrheit wähnt. Einer Machtübernahme des Nationalsozialismus fiebern diese oft jungen, romantischen Reaktionäre geradezu glühend entgegen: »Über jegliches hat er eine feste Ansicht (…) Sein Geist kam mir so unendlich vor wie ein Rübenfeld, seine Meinungen sind in härtestem Stahl geschmiedet. Zwar erst 22 Jahre alt, ist bei ihm schon alles in Ordnung gebracht.«

Decour gelingen in seiner tagebuchartigen, teils komischen, teils tieftraurigen Prosa genaue Beobachtungen, wobei das Erinnerte eben nicht achtlos hingekritzelt, sondern detailliert und anschaulich wiedergegeben wird. Vieles liest sich wie eine bis heute gültige Diagnose: die von den Deutschen praktizierte »knauserige Dosierung des Genusses«, den sie sich im Alltag gönnen, ihre Vorliebe für herausgeputzte Anführerfiguren und militärisches Brimborium, ihre uneingeschränkte, freudige Bejahung von Werten wie Ehre, Vaterland, Pflichterfüllung, ihre vehemente Zurückweisung von allem, was Spurenelemente von Zweifel und Skeptizismus aufweist, sowie ihr Hang zu Kitsch und Pathos oder ihr freimütig hervorgekehrtes Desinteresse, was den Umgang mit Gegenständen der Kunst angeht. Und natürlich: »Hass gibt es wie das tägliche Brot.«

Man stößt sogar auf Stellen, die seit 1930 von ihrer Aktualität nichts eingebüßt haben: »Trotz der Eloquenz ihrer Theoretiker kann die Sozialdemokratie das Offensichtliche nicht ableugnen: Aus Revolutionären wurden Konservative.« Naja, um ehrlich zu sein: Das mit der Eloquenz stimmt heute nicht mehr.

Bevor wir’s vergessen: Das einstige FDGB-Ferienheim »Jaques Decour« heißt heute »Waldhotel Linzmühle«. Die Gedenktafel ist verschwunden. The Times They Are A-Changin’.

Jaques Decour: Philisterburg. Aus dem Französischen übersetzt von Stefan Ripplinger. Die Andere Bibliothek, 126 S., br., 18 €

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