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Zwei gelbe Müllsäcke im Flur
Ihm wurde erst jetzt der charakteristische Geruch bewusst, der im Sprechzimmer des Arztes herrschte. »Wie in einer Leichenhalle!«, so schoss es ihm durch den Kopf, und die Tatsache, dass er selbst bald in einer solchen liegen würde, nötigte ihm sogar ein Lächeln ab, dessen Ursache eine seltsame Mischung aus Zynismus und auch grenzenlosem Selbstmitleid war. Ein gefährlicher Cocktail, wie er längst wusste. Der Arzt sah es hinter seinem Schreibtisch und zog verständnislos eine Augenbraue hoch, während er sich bemühte, ein möglichst teilnahmsvolles Gesicht aufzusetzen, angesichts der Diagnose, die er ihm gerade verkündet hatte. Ein Todesurteil. Die Frühlingssonne schien durch das große Fenster, spielte auf dem hellen Gelb der Tapete und tauchte das saubere Behandlungszimmer mit seinen gepflegten Grünpflanzen und dem großen Abreißkalender an der Wand, von dem der Schriftzug eines bekannten Pharmaherstellers prangte, in ein seltsam mildes Licht. Der Arzt räusperte sich irgendwie peinlich berührt, als empfände er plötzlich Beklemmung, jetzt, nachdem er ihn von der Endgültigkeit seines Befundes in Kenntnis gesetzt hatte, noch länger mit ihm allein im Zimmer sein zu müssen. Auf dem Schreibtisch des Arztes lagen seine Patientenunterlagen und Befunde ausgebreitet. Der Arzt aber erhob sich, um ihn zu verabschieden, und ihm fiel plötzlich auf, dass die Brille des Mediziners verbogen war und ihm auf eine eigentümliche Weise schief im Gesicht saß, was dem Arzt einen seltsamen Anflug von beinahe kindlicher Hilflosig- und Verletzlichkeit verlieh.
»Ja, dann!«, sagte der Arzt und reichte ihm über den Schreibtisch hinweg seine kalte Hand: »Alles Gute für Sie! Die Schwester hat Ihre Unterlagen ja bereits vorbereitet. Besprechen Sie alles zu Hause mit Ihrer Familie! Wie gesagt, ich empfehle, auch zur Entlastung Ihrer Angehörigen, eine baldige Einweisung in eine Palliativklinik oder in ein Hospiz. Bei der Auswahl einer geeigneten Einrichtung sind wir Ihnen natürlich gern behilflich!«
Während er durch das Wartezimmer lief, meinte er, die Blicke der dort Sitzenden auf sich zu spüren: neugierig, kalt, teilnahmslos. Er wich den Blicken aus, aber er meinte, seine Augen verrieten trotzdem, was er dachte: Ich habe ein ossäres Sarkom!
Draußen, im leuchtend gelben Frühlingslicht, das ihn an die Beleuchtung im Inneren einer Kirche erinnerte, hatte er plötzlich das dringende Bedürfnis, nach Hause zu seiner Frau zu kommen. Es war, als spüre er einen Zwang in sich, möglichst jede weitere Sekunde, die ihm noch blieb, an der Seite seiner Frau zu verbringen. Sie waren jetzt 24 Jahre verheiratet. Im nächsten Jahr sollten sie Silberhochzeit haben. »Wer weiß, ob wir die Silberhochzeit noch erleben?«, hatte er immer angesichts der Serie von Trennungen und Scheidungen in ihrem Bekanntenkreis gescherzt. Angesichts ihrer Dominanz und Rechthaberei. Angesichts ihrer Teilnahmslosigkeit und Empathielosigkeit. Wie betäubt fuhr er durch die Stadt.
Sein linkes Bein, von dem er nun wusste, dass ein ossäres Sarkom in ihm wucherte, das weder auf chirurgische, noch auf medikamentöse Maßnahmen ansprechen würde, schmerzte heftig. Im Radio lief »One of us« von ABBA. Ein Oldie, der vor fast 30 Jahren einmal en vogue gewesen war. In einer Zeit, als er gerade dabei war, sein Abitur zu bestehen.
»They passed me by,
all of those great romances.
You were, I felt, robbing me
of my rightful chances ...«
Er fuhr wie betäubt durch die Straßen. Die ersten Knospen begannen an den Bäumen zu sprießen, und das Sonnenlicht blendete ihn. Er brauchte jetzt jemanden, an den er sich anlehnen konnte, nach allem, was er gerade erfahren hatte. Er brauchte seine Frau, egal, was bisher zwischen ihnen beiden falsch gelaufen war. Er brauchte zumindest ihre Barmherzigkeit. »Es ist die gegenwärtige Zeit«, so dachte er: »Die Zeit macht die Menschen zu Hyänen, die nur dem Geld nachjagen und dabei ihre Menschlichkeit verloren haben!«
Seine Frau saß hinter dem Tisch und blickte ihn aus kalten Augen an. Auf dem Küchentisch stand, wie ein Asservat in einer Gerichtsverhandlung, die leere braune Bierflasche, die er gestern mit Heiko zusammen getrunken hatte. »Ich war beim Arzt!«, sagte er hilflos zu seiner Frau. »Es ist mir egal, wo Du warst!«, antwortete sie kalt und entschlossen: »Du hast wieder getrunken, obwohl ich es Dir mehr als ein Mal verboten habe!« »Aber ich hatte ...«, versuchte er hilflos zu erklären. »Es ist mir egal, was Du wieder an Erklärungen vorbringst!«, unterbrach sie ihn: »Ich bin es leid! Ich bin es ein für alle Mal leid! Ich trenne mich von Dir! Und diesmal ist es endgültig!« Ihre Augen wanderten an ihm vorbei in den Flur. Dort standen, an die Wand gelehnt, zwei gelbe Müllsäcke, in die sie einige seiner Sachen verpackt hatte.
Der 49-jährige freiberufliche Journalist ist seit einiger Zeit online-Leser von »neues deutschland«. So erfuhr er auch von dem Wettbewerb, und hat sich spontan entschlossen, daran teilzunehmen. »Es war mein erstes , aber garantiert nicht das letzte Mal«, ist der studierte Germanist überzeugt.
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