Traum der einen, Albtraum der anderen

Im Itaquerão-Stadion von São Paulo wird am 12. Juni die WM eröffnet. Es liegt in einer der ärmsten Regionen der Elf-Millionen-Stadt. Wem nützt der Bau der Arena?

  • Niklas Franzen
  • Lesedauer: 7 Min.

Der alte graue Zug rattert immer weiter in Richtung Osten São Paulos. Langsam gerät der Hochhausdschungel des Zentrums außer Sicht. Die Häuser werden zunehmend einfacher. 14 Stopps sind es mit der U-Bahn aus der Innenstadt in die östliche Peripherie der Megametropole. Schon bevor der Zug die Endstation Corinthians-Itaquera erreicht, ist der riesige, weiße Klotz durch die verschmierte Scheibe zu erkennen - die Arena Corinthians. Das Stadion befindet sich im Herzen des Stadtteils Itaquera und wurde deshalb von seinen Bewohnern Itaquerão getauft. Die Arena ist nicht nur die zukünftige Spielstätte des Traditionsvereins SC Corinthians, sondern auch Austragungsort der 20. Fußballweltmeisterschaft.

»Ich bin überzeugt, dass wir eine großartige WM in diesem Stadion haben werden.« Marco Antonio Antunes, der Pressesprecher der Baufirma Odebrecht, empfängt seine Gäste an der bewachten Schranke am Eingang der Arena. Es wird penibel auf die Einhaltung von Sicherheitsstandards geachtet, auch bei Besuchern. Helm und Sicherheitshose sind Pflicht beim Betreten des Stadions. Zwischen den Bauarbeitern eilen behelmte Anzugträger und Pressevertreter durch die halbfertigen Gänge.

Blut und Schweiß fürs Fußballfest

Auf den WM-Baustellen im »Land des Fußballs« kommt es zu massiven Arbeitsrechtsverletzungen: Unbezahlte Überstunden, verspätete Gehaltszahlungen und fehlende Hygienemöglichkeiten.

In Südafrika starben beim Stadionbau für die WM 2010 zwei Arbeiter, in Brasilien waren es im Frühjahr 2014 bereits acht. Gewerkschafter berichten, dass aufgrund des Zeitdrucks in vielen Stadien Sicherheitsvorkehrungen vernachlässigt wurden, während gleichzeitig die Arbeitszeit erhöht wurde.

24-Stunden-Schichten seien keine Seltenheit. Besonders bedenklich sind die Berichte vom Bau der Arena Amazônia in Manaus. Vier Arbeiter starben, Löhne wurden verspätet oder gar nicht gezahlt. Augenzeugen sprechen von »sklavenartigen Bedingungen« für haitianische Gastarbeiter.

Die Bauarbeiter leisten unterdessen immer stärkeren Widerstand gegen ihre prekären Arbeitsbedingungen. In acht der zwölf Austragungsorte kam es zu Streiks. nfr

 

In São Paulo entsteht einer der modernsten Fußballtempel Lateinamerikas: Neben neuester Technologie und einem speziellen Rasen wird die Arena die größte in einem Stadion eingebaute Leinwand besitzen. Während der WM wird das Stadion 68 000 Zuschauern Platz bieten. Dafür schufteten über 2500 Arbeiter Tag und Nacht an dem Megaprojekt. Bereits vor seiner Fertigstellung gewann das Projekt mehrere Architekturpreise. Jedoch ist der Itaquerão auch eines der Sorgenkinder der WM. Streit um die Finanzierung, mehrere angedrohte Baustopps und schwere Unfälle überschatten die Vorfreude. Die rechtzeitige Fertigstellung des Stadions bis zur WM war lange fraglich.

Schon bevor der erste Stein des Stadions gelegt wurde, löste der Itaquerão heftige Kontroversen aus. Zuerst war das Morumbi-Stadion im Westen der Stadt vorgesehen. Nachdem eine Modernisierung der 80 000 Zuschauer fassenden Spielstätte des FC São Paulos aufgrund angeblicher Finanzierungsprobleme vom Tisch war, erhielt im Oktober 2011 die Arena Corinthians den Zuschlag für die WM.

Ein Jahr zuvor hatte der SC Corinthians den Bau des eigenen Stadions angekündigt. Als Bauunternehmen wurde Odebrecht präsentiert, Brasiliens Vorzeigemulti. Experten bezeichnen das Unternehmen als »Rückgrat der brasilianischen Wirtschaft«. Traditionell besitzt es enge Verbindungen zum Staat - insbesondere zur regierenden Arbeiterpartei PT. Der Neubau mit Odebrecht als Bauunternehmen war kein Zufall, sondern dürfte mit der engen Verbindung von Ex-Präsident und Corinthians-Fan Luiz Inácio Lula da Silva zum Konzern sowie großzügigen Parteispenden zusammenhängen.

Da die ursprünglich geplante Arena nur für 48 000 Zuschauer ausgerichtet war und somit nicht den FIFA-Standards entsprach, musste ein neuer Sanierungsplan her. Die Kosten für das Stadion schnellten in die Höhe. Insgesamt verschlingt die Arena über 310 Millionen Euro und ist damit nach den Stadien in Rio de Janeiro und Brasília das drittteuerste Stadion der WM. Mehr als die Hälfte der benötigten Mittel werden aus Steuergeldern bezahlt. Den Rest streckt die staatliche Entwicklungsbank BNDES vor. Aufgrund von Finanzierungsproblemen und dem Streit zwischen den Bauherren, der Regierung und Banken drohten mehrere Baustopps, zuletzt im Frühjahr 2014. Zwischenzeitlich stellte die FIFA sogar São Paulo als WM-Standort in Frage.

Es war am 27. November 2013, als ein Kran zusammenbrach und zwei Bauarbeiter starben. Offizielle Stimmen taten den Vorfall als »tragischen Unfall« ab. Die Baugewerkschaft Sintracon-SP berichtete jedoch, dass Stunden vor dem Unfall Probleme gemeldet wurden. Der 56-jährige José Walter Joaquim, der den Kran an diesem Tag bediente, hatte einen Arbeitsmarathon von 18 Tagen ohne einen Tag Pause hinter sich. »Die 100-prozentige Sicherheit ist die Philosophie von Odebrecht«, entgegnet Antunes den Vorwürfen. Wie es zu dem Unfall kommen konnte, müsse noch geprüft werden. Ende März kam es jedoch bereits zum nächsten tödlichen Unfall, als ein 23-jähriger Arbeiter bei Montagearbeiten über acht Meter in die Tiefe stürzte. Das Arbeitsministerium übte daraufhin scharfe Kritik an den Sicherheitsbedingungen.

Die Arena bleibt ein widersprüchliches Projekt. Die Region Itaquera gehört zu den ärmsten der Stadt. Die Meinungen über das »Fußballfest« vor der Haustür sind gespalten. »Das Stadion wird Fortschritte für unseren Stadtteil bringen«, sagt Laelcio Alves, der eine kleine Bar in Sichtweite des Itaquerão betreibt. Vor allem ökonomisch werde die Region von dem Stadion profitieren. Jedoch kann der 58-Jährige die Zweifel seiner Nachbarn verstehen.

Viele kritisieren die sozialen Folgen des Stadionbaus für die Region. Für Deives Oliveira Ikemori, der einen Geschenkartikelladen unweit der Arena betreibt, kommt »die WM und das Stadion keineswegs der Bevölkerung zugute«. Am Ende profitierten die Sponsoren, die FIFA und Politiker. Vor allem die steigenden Mieten rund um die Arena bereiten ihm Sorgen. Diese sind bereits so stark gestiegen, dass zahlreiche Menschen wegziehen mussten. Odebrecht-Vertreter Antunes sieht den Wandel des Stadtteils pragmatischer: »Wenn man keine Entwicklung in die Stadt bringt, wird sich nichts verändern. Wir sind halt eine freie Marktwirtschaft«.

Das Stadion werde einen durchweg positiven Effekt für die Region haben, versichert Nádia Campeão. »Alle Bewohner Itaqueras werden profitieren. Der Itaquerão wird der wichtigste Pol der ökonomischen Aktivierung für die gesamte Ostzone der Stadt sein«, sagt die Vize-Bürgermeisterin São Paulos und Koordinatorin des WM-Veranstaltungskomitees bei ihrem Rundgang durch die Arena. Immer wieder betont sie, dass der Stadionbau nur ein Teil eines größeren Sanierungsprogramms für die Region sei. Zwei neue Schulen und ein Kulturzentrum seien bereits gebaut, Hotel- und Wohnanlagen sowie ein Wirtschaftszentrum in Planung. Dies werde Unternehmer und Touristen gleichermaßen anziehen. Zudem würden Hauseigentümer aus der Aufwertung des Stadtteils durch die Wertsteigerungen ihres Eigentums Vorteile ziehen.

Campeão pflegt den klassischen Diskurs vom der wirtschaftlichen Entwicklung als Allheilmittel. In der Tat werden einige vom Aufschwung profitieren, zum Beispiel durch die Vermietung ihrer Häuser während der WM. Andere jedoch, die kein Eigentum besitzen oder auf rechtlich ungeklärtem Land leben, wird das Projekt mit aller Härte treffen. Hunderte Familien wurden bereits geräumt oder sind immer noch von der Räumung bedroht. Eine Bannmeile erstreckt sich zwei Kilometer rund um das Stadion und verspricht den FIFA-Sponsoren Exklusivität. Konkret heißt das, dass Anwohner und Straßenhändler nicht eine Dose Bier an die Besuchermassen verkaufen dürfen, die ab nächste Woche nach Itaquera strömen werden.

Für viele Fans von Corinthians ist das Itaquerão die Erfüllung eines langersehnten Traumes. Viel zu lange musste sich der Verein mit dem Rivalen Palmeiras das Pacaembu-Stadion teilen. Jeden Tag kommen Fans nach Itaquera, um sich vor ihrem »neuen Zuhause« fotografieren zu lassen. Jedoch unterstützen nicht alle Fans das Projekt, auch nicht Danilo Cajazeira. Der 31-Jährige ist Mitglied des WM-kritischen Basiskomitees und seit er denken kann Corinthians-Anhänger: »Ich liebe Corinthians, aber wollte nie dieses Stadion. Es befindet sich in einem armen Stadtteil, aber hat keinen Platz für arme Fans.« Laut Danilo sind aus diesem Grund vor allem die sozialschwächsten Anhänger mit dem Stadion unzufrieden. Die neue Arena verspricht nicht nur steigende Eintrittspreise und ein Stadionerlebnis wie in einem Kaufhaus, sondern die Corinthians-Fans, die zu den fanatischsten in ganz Brasilien zählen, müssen auch auf Stehplätze verzichten. Diese Seite des modernen Fußballs fällt bei der Debatte um die Arena oft unter den Tisch.

Am deutlichsten zeigt sich der Widerspruch des Stadions am Beispiel der Favela Vila da Paz. Die Gemeinde befindet sich zwischen einer Autobahn und dem verschmutzen Fluss Rio Verde, keine 900 Meter von der Arena entfernt. Aus dem Internet haben die Bewohner von den Räumungsplänen erfahren. Da die Stadtverwaltung keinerlei Alternativen bereit hielt, begann man sich zu organisieren. Nach jahrelangem Widerstand erkämpften die Anwohner den Bau von Sozialwohnungen in der Nähe der heutigen Siedlung. Noch in diesem Jahr soll ein Teil von Vila da Paz in die Wohnanlagen umgesiedelt werden, während die restlichen Bewohner im Jahre 2016 einen sozialen Wohnungsbau beziehen sollen. Dieser ist jedoch noch nicht gebaut, und es gibt bislang keinerlei schriftliche Zusagen. Daher ist die Skepsis groß. »Wir haben Angst, dass sie trotz der Versprechen eines Nachts kommen, um uns zu räumen«, sagt Drancy Silva, Vorsitzender des Bewohnervereins. Und das Megaevent vor der Haustür? »Davon profitieren doch nur die Reichen. Für uns Arme bringt die WM nur Probleme«, so der 56-jährige Silva.

Diese Meinung teilt auch Danilo vom Basiskomitee. Für den Geographielehrer verschärfen sich jedoch mit der WM lediglich schon vorher dagewesene Gentrifizierungsprozesse in der Region. »Die Probleme gab es schon vorher. Mit der WM spitzen sich diese jedoch zu.« In Itaquera zeige sich ein typisches Bild brasilianischer Stadtentwicklung: Menschen, die dem Kapitalfluss im Wege stehen, müssen weg. Insbesondere die Ärmsten bleiben dabei auf der Strecke.

Die Diskussion um die Spielstätte in der Peripherie reißt nicht ab. Es bleibt abzuwarten, welche langfristigen Effekte das Stadion auf die Region haben wird. Eines scheint aber bereits sicher: Viele ihrer Bewohner leben wortwörtlich im Schatten des Stadions.

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