Public Viewing to go
Stephan Fischer über Fußballflaneure mit sinistren Ideen
Feierabend und Anstoß, jetzt heißt es schnell zu den Freunden, Fußball gucken. Aber nicht zu hastig, nicht dass ich Thomas Müllers Freistoßstolpertrick auf der Straße imitiere. Straßenfußballer bin ich nie gewesen und im Zweifel lande ich Tor dann noch im Krankenhaus.
Also flaniere ich lieber, anstatt durch den Berliner Stadtteil Friedrichshain zu rennen. Und nutze dabei das hilfreiche Angebot der weltweit tätigen Bespaßungsagentur FIFA: »Public Viewing to go«. Ich kann während dieser WM ganze Stadtteile durchqueren, ohne auch nur eine Minute der Spiele zu verpassen. Vor jeder Kneipe und jedem Spätverkauf steht ein Fernseher auf der Straße. Manche Wirte haben die dort nur aufgestellt, damit die Fußballfans nicht in ihr Lokal kommen und dort mit ihrem lauten Sit-In die Stammgäste to go - zum Gehen - und zwar nach Hause, animieren.
In einer Straße kann ich auf dem Bürgersteig gleich auf fünf Bildschirme gleichzeitig starren. Oder mich wahlweise von einem Freistoß über die obsessiv jubelnden Verkleideten zur nächsten Superzeitlupe hangeln. Möglichst ohne zu stolpern, weil ich wegen der Fußlümmelei im Fernsehen nicht auf die eigenen zwei Beine geachtet habe. Und dann zur nächsten Schwalbe 20 Meter weiter nur noch robben könnte.
Die größte Stolperfalle für das Public Viewing to go sind aber fußballhassende Spaziergänger. Alle Fernseher der Straße in der letzten Minute des Endspiels gleichzeitig abschalten, das wäre was, raunt sich ein Pärchen verschwörerisch vor mir auf dem Trottoir zu. Sie denken laut darüber nach, einem Technik-An-und-Verkauf mal wieder einen Besuch abzustatten, da gäbe es doch diese tollen Universalfernbedienungen.
Das Finale werde ich zur Sicherheit ganz klassisch schauen. Das Public Viewing to go ist nämlich genau wie meine Freistoßstolperfähigkeiten - technisch einfach noch nicht ausgereift.
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