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Mainz schluckt wirklich alles
Unsere Kolumnistin lässt sich vom rheinischen Frohsinn verzaubern
Die Trainingsgruppe steht neben dem Starterblock. Eine Frau kniet mit einem Bein am Beckenrand, ein Schwimmgürtel ist um ihre Taille geschnallt. Sie nimmt die Arme hoch, die Trainerin biegt ihren Oberkörper sanft nach vorn und gibt ihr einen Klaps. Die Frau stößt sich mit dem aufgestellten Bein ab und fliegt mit perfektem Kopfsprung ins Wasser. Die gesamte Gruppe strahlt.
Früher Abend im Mainzer Taubertsbergbad. Das Sommerbecken des Schwimmbads beim Hauptbahnhof hat ein Häubchen bekommen, erklärt meine Freundin, die ich Ende Oktober in Mainz besuche. Die Halle hüllt sich in Gerüste, bald soll sie mit Kletterwand, Sprungturm und Wellness-Bereich wiedereröffnet werden. Gleich hinter dem Drehkreuz steht ein Pinguin in einem verwaisten Becken. Vor Kurzem war noch Freibadsaison, abgebadet wurde gemeinsam mit Vierbeinern. Jetzt schwimmen Blätter im Kinderbecken.
Anne Hahn ist Autorin von Romanen und Sachbüchern und schwimmt für »nd« durch die Gewässer der Welt.
Das Tragluftdach überspannt Schwimmerbecken, Sonnenschirme, Liegen, Duschen und Schließfächer. Die 25-Meter-Becken in vier Vierteln bieten Platz für jegliches Begehr. Wir trainieren, während nebenan Köpper gelehrt wird, auf einer Fläche Kinder tauchen und schließlich ein Damenkränzchen auf den Blubberblasen-Bänken residiert. Ein Mann liest seine Zeitung im Liegestuhl, Mütter verteilen Süßes unter einem Schirm. An der Decke hängen Neonröhren und Verlängerungskabel. Beim Ausschwimmen habe ich ein Kroatien-Déjà-vu und grinse glücklich, während meine Freundin In-der-Badewanne-Dümpeln spielt.
»Mainz schluckt alles!«, sagt die Stadtführerin, als wir in einem alten Gelenkomnibus im Baustellenstau stecken. Zuvor schwärmte sie von der früheren Brauereien- und Winzereien-Dichte in Mainz. Als wir die Stelle passiert haben, an der Anna Seghers’ Elternhaus stand, ist sie beim Thema Wiesbaden angelangt. Wir werden aufgeklärt beziehungsweise in allen Vorurteilen bestärkt, die die Nachbarstädte gegeneinander aufbringen und drehen eine Schleife über den Rhein nach Mainz Kastell, für die schöne Stadtansicht auf der Rückroute. Ich halte Ausschau nach Halsbandsittichen, die sollen von Wiesbaden nach Mainz eingewandert sein.
Weder am Fluss noch in den Parks werde ich fündig. Im Naturkundemuseum schwingt ein riesiges Schreckenstier das Tanzbein. Dem Bienenstock hat man das Einflugloch direkt ins Kirchenfenster geschnitten. Kirchen gibt es reichlich, Beton konkurriert mit barocken Madonnen. Es liegt Musik in der Luft, das Volk trinkt auf den Straßen mit seinen Ministern Wein. Dicke Wolken über Mainz. Die durchbrechende Sonne malt Licht auf die Wände, die Jesusskulptur im Dom schwingt sich auf davonzufliegen, eine Kurfürstin krabbelt aus ihrem Sarg. Bei den Expressionisten tanzen drei Mädchen aus Bronze, abends drehen sich Derwische vor dem Damaskus-Imbiss, bis die Polizei kommt.
Auf dem Weg zum Bahnhof Römisches Theater umkreise ich einen Spundekäs-Wein-Flatschen. Ich gerate in Blätter, breite die Arme aus und höre etwas kreischen. Während ich in die nächste Platane spähe, fällt irgendwo im Süden des Landes ein Baum um und gestaltet meine Heimfahrt zum Abenteuer.
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