Auf eine neue Runde, Wilde Zicke!

Mehrfach totgesagt, ruckelt die Straßenbahn nach 122 Jahren noch immer durch Naumburg

  • Heidi Diehl
  • Lesedauer: 6 Min.
Geldtasche aus einer anderen Zeit. Sie kommt, wie auch der Pferdebahnwagen aus dem Jahr 1894 (oben) zu besonderen Anlässen zum Einsatz.
Geldtasche aus einer anderen Zeit. Sie kommt, wie auch der Pferdebahnwagen aus dem Jahr 1894 (oben) zu besonderen Anlässen zum Einsatz.

Schon das quietschende Geräusch, wenn sie sich in eine Kurve legt, lässt das Herz höher schlagen. Und das laute, schnarrende Signal, wenn sie sich in Bewegung setzt, klingt für Naumburger wie Musik in den Ohren. Sie lieben ihre »Wilde Zicke« oder »Ille-Bim«, ihre Straßenbahn, die neben der steinernen Uta im Dom ein Markenzeichen der mittelalterlichen Stadt ist.

Mit einigen Unterbrechungen ruckelte sie ab 1892 gemächlich durch die engen Straßen. Bis 1906 als Dampfbahn, seitdem elektrisch. 1914 wurde sie als Ringbahn ausgebaut, damals einmalig in Europa. Mit einer Streckenlänge von nur 5,3 Kilometern und ihren stets nostalgischen Wagen galt die Straßenbahn deutschlandweit jahrzehntelang als ein Exot.

Mancher Tourist hat weite Wege auf sich genommen, um mit ihr auf eine Zeitreise zu gehen. Einer verliebte sich dabei vor einigen Jahren zunächst so sehr in die »alte Dame« und später in eine junge Naumburgerin, dass er seine Zelte in der Schweiz abbrach und in die Saalestadt zog. Heute ist Andreas Messerli einer der beiden Geschäftsführer der Naumburger Straßenbahn GmbH, der andere, Andreas Plehn, ist ein echter Naumburger.

Ohne Leute wie Plehn und Messerli gäbe es die kleinste Straßenbahn Deutschlands wohl längst nicht mehr. Denn 1991 wurde sie zum Leidwesen vieler stillgelegt, moderne Busse sollten sie ersetzen. Ein großer Teil der Gleiskörper verschwand unter einer zentimeterdicken Bitumenschicht, Masten und Oberleitungen wurden abmontiert. Viele Naumburger waren entsetzt über das Ende ihrer »Wilden Zicke«. Einige wollten sich damit nicht abfinden und gründeten Ende 1991 den Verein Nahverkehrsfreunde Naumburg-Jena e.V. mit dem festen Ziel, die Bahn wieder ins Rollen zu bringen. Dazu musste aber eine Betreibergesellschaft her, die am 10. März 1994 als erstes privates Straßenbahnunternehmen Deutschlands als Naumburger Straßenbahn GmbH gegründet wurde. Schon drei Monate später, zum traditionellen Kirschfest, war erstmals nach vier Jahren wieder das schnarrende Abfahrtsignal zu hören. Zwar verkehrte die Bahn nur auf wenigen hundert verbliebenen Metern Schiene, doch die Naumburger waren glücklich. In den nächsten Jahren erneuerte die Stadt als Träger der Bahn einen Teil der Strecke, ab 2006 rumpelte sie zwischen April und Oktober an den Wochenenden auf inzwischen wieder 2,5 Kilometern als Touristenbahn zwischen Bahnhof und Vogelwiese hin und her, ein Jahr später dann im täglichen Linienverkehr. Obwohl sich die Zahl der Fahrgäste von Jahr zu Jahr erhöhte und viele Naumburger sie längst wieder als normales Verkehrsmittel nutzten, behielt sie ihren Status als Touristenbahn. Erst 2010 änderte sich das. Da verabschiedete der Magdeburger Landtag eine Gesetzesänderung, durch die die Straßenbahn in den Öffentlichen Personennahverkehr Sachsen-Anhalts integriert werden konnte und ihr somit auch finanzielle Mittel vom Land zustehen. Heute fahren jeden Tag etwa 250 Menschen mit der »Wilden Zicke«, was immerhin einem Prozent der Einwohner Naumburgs entspricht. Im Februar 2013 konnte der 500 000. Gast seit Beginn der Sieben-Tage-Arbeitswoche der betagten Bahn begrüßt werden.

Was für die Naumburger ein völlig normaler Anblick ist, versetzt Touristen nach wie vor in Entzücken und lässt sie die Fotoapparate im Dauerbeschuss klicken: Die liebevoll sanierten Triebwagen wirken wie aus der Zeit gefallen, jeder von ihnen ein echter Oldtimer. Der jüngste im täglichen Betrieb hat 42 Jahre auf den Achsen, der älteste bereits 59. Insgesamt gehören neun Triebwagen und diverse andere historische Wagen zum Bestand, darunter ein Pferdebahnwagen aus dem Jahr 1894. Zu besonderen Anlässen wird er eingespannt, und dann geht's mit zwei PS auf eine quietschvergnügte Zeitreise.

Am 21. September, wenn der 100. Jahrestag der Inbetriebnahme der Ringbahn gefeiert wird, ist es wieder soweit. Auch wenn es den Ring um die Stadt nicht mehr gibt, der rührige Verein lässt nicht locker in seinem Bemühen, den Kreis eines Tages doch wieder zu schließen. Eine visionäre Zielmarke dafür wird schon angepeilt: 2028, das Jahr, in dem Naumburg 1000 Jahre alt wird.

Bis dahin fließt noch eine Menge Wasser die Saale hinunter, und Verein, GmbH und Stadt wird es jede Menge Geld, Arbeit und Nerven kosten, das Ziel zu erreichen. Doch spätestens seit dem Straßenbahnfest im vergangenen September wissen alle, dass sie auf die Unterstützung der Naumburger fest setzen können. Damals verkündete Andreas Plehn den Plan, bis 2017 die Strecke um 400 Meter bis zum Salztor zu verlängern. Landesmittel sind bereits fest zugesagt, vorausgesetzt, die Stadt bringt einen Teil als Eigenmittel auf. Um die ewig klamme Stadtkasse zu entlasten, riefen die Straßenbahner die Bürger und ihre Gäste auf, sich mit Spenden am Wiederaufbau der Strecke zu beteiligen. Beispielsweise durch den Kauf eines der insgesamt 16 Fahrleitungsmasten für rund je 800 Euro oder einer von 600 Schienenschwellen für 70 Euro. Womit kaum einer gerechnet hatte: Innerhalb kürzester Zeit waren bis auf zwei Masten alle verkauft, und auch die Schwellen gingen weg wie warme Semmeln. Nur noch 80 warten auf »Paten«. Insgesamt kamen in nur acht Monaten 90 000 Euro an Spenden zusammen. Zumeist von Naumburger Bürgern und Betrieben, aber auch von anderen Bahnenthusiasten oder ehemaligen Einwohnern der Stadt. So gibt es auch in Holland, der Schweiz oder in den USA »Schwellenbesitzer«. Manchmal wird so eine Schiene auch zum unverhofften Geschenk, wie kürzlich beim alljährlich stattfindenden Naumburger Straßengeherwettbewerb für eine sportliche Berliner Polizistin. Ihre Teamkollegen hatten zufällig von der Spendenaktion gehört und ihr spontan das wohl ungewöhnlichste Geburtstagsgeschenk gemacht.

Die »Wilde Zicke« ist längst wieder ein normales Verkehrsmittel, dennoch ein ganz außergewöhnliches. Und das nicht allein wegen ihres Alters: Oder kennen Sie eine andere Straßenbahn, in der die aktuelle Tageszeitung hängt und wo der Fahrer an jeder Haltestelle aussteigt, um Leuten und deren Gepäck hineinzuhelfen? Dass er für Fotoenthusiasten schon mal kurz anhält oder langsamer fährt, damit die das optimale Bild bekommen und sich auf Wunsch auch als Stadterklärer betätigt, ist bei der Naumburger »Ille-Bim« ganz selbstverständlicher Service. Und dass er wie anno dazumal jeden Fahrschein mit einer alten Zange locht, ebenso.

Infos

www.naumburger-strassenbahn.de
www.facebook.com/NaumburgerStrassenbahn

Allgemeine Infos zu Naumburg:
www.naumburg-tourismus.de

Besonderer Tipp:
Die »Kulturakademie Naumburg« bietet vom 20. bis 22. September zehn verschiedene Seminare an, darunter eines zur Geschichte und Zukunft der Naumburger Straßenbahn. Als Höhepunkt dürfen die Teilnehmer selbst eine Straßenbahn fahren. Infos und Buchung unter: www.naumburger-strassenbahn.de bzw, www.kulturakademie-naumburg.de

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