Wo beginnt der Balkan?

Erkundungen in dem bulgarischen Gebirge, das Südosteuropa den Namen gab.

  • Michael Müller
  • Lesedauer: 7 Min.

Auf dem Balkan: Gebirge, nicht ganz so hoch wie die Alpen, aber mitunter doch schon bis in die Schneezone hinein. Täler, mal karstig und schroff wie in den Pyrenäen, mal weich und grün wie in Thüringen. Alles von vielen Flüsschen und Flüssen durchzogen. An ihnen Städte und Dörfer mit einer mal ganz feinen, mal recht groben Flairmischung aus Okzident und Orient. Im weiten Halbkreis alles umgeben von südlichen Meeren. Die Landschaft ist eine prähistorische Brücke, über die Europa einst aus Afrika via Asien besiedelt wurde. Die Menschen, die hier heute wohnen, tragen diese geografischen, kulturellen Spuren, und diese prägen ihren Lebensstil. Der ist meist noch so entschleunigt, wie ihn westeuropäische Stresstherapeuten, Sinnestrainer und Sanfttouristiker ihrer Klientel als neueste Psychohygiene empfehlen.

Genau das kann man in Südosteuropa, häufig Balkan genannt, also zwischen Bulgarien und Montenegro, von Serbien bis Albanien alles im alltäglichen Original finden. Aus Eurosicht zudem noch recht preiswert. Dennoch tun sich Mittel- und Westeuropäer schwer, hin zu reisen. Urlaub auf dem Balkan? Fragendes Staunen, irritiertes Kopfschütteln; hierzulande fällt den meisten zu der Gegend nur Korruption und Mafia ein.

Letzteres ist übrigens ein treffendes Wirkungsbeispiel für unermüdliche wie unredliche Wiederholung wohlfeil gesiebter Fakten durch die deutschen »Leitmedien«. Wobei solch Faktisches eigentlich leicht und schnell zu relativieren ist. Etwa durch Verweise auf die Bestechung, beispielsweise in Deutschland oder auf die kriminelle Schattenmacht, beispielsweise in Italien. Flossen doch beim deutschen Siemens-Skandal allein in den USA illegal 1,3 Milliarden Euro. Und setzt doch allein das italienische Untergrundtriumvirat aus 'Ndrangheta, Cosa Nostra und Camorra pro Jahr rund 120 Milliarden Euro um. Nicht dass es an Korruption und Mafia auf dem Balkan fehlte. Aber gemessen an den entsprechenden Summen in Westeuropa ist das dort bestenfalls Entwicklungsregion.

Wo nun aber beginnt eigentlich dieser Balkan? Auch hier ist die mittel-west-europäisch zentrierte Sicht diffus. Etwas - aber nur ganz leicht - überspitzt gesagt: Für Deutsche beginnt er wohl schon hinter Budapest, für Ungarn bald hinter Klagenfurt und für Engländer möglicherweise gleich hinter Calais. Eine Antwort, an der wenig herumzudeuteln ist, gibt indes Dr. Krasimir Dshonew: »Wenn schon Balkan, dann sind Sie hier bei uns richtiger als anderswo.«

Der 45-jährige Bürgermeister des bulgarischen Städtchens Letnitza sagt das mit lokalpatriotischem Stolz und mit Augenzwinkern. Denn es stimmt politisch-geografisch nicht so ganz, dafür aber geologisch. Letnitza liegt nämlich im Zentralbalkan. Also mitten im Balkangebirge selbst, das Bulgarien in voller Breite durchzieht. In römischer Zeit hieß es Hemus, Balkan nannten es dann die Osmanen. Demgemäß dann auch ihre vom Balkangebirge dominierte Großprovinz. Und die gesamte, rund 500 000 Quadratkilometer große südosteuropäische Halbinsel nennt man eben noch heute so.

Da mittendrin eben liegt Letnitza. Zumindest mitten im Balkangebirge selbst, das übrigens in der Landessprache Stara Planina heißt, Altes Gebirge. »Bei uns finden sie alles, was den Balkan so ausmacht«, versichert Bürgermeister Dr. Dshonew, der, bevor er in die Kommunalpolitik ging, als Tierarzt arbeitete. Und er zählt auf: den Krushuna-Öko-Wanderweg, der insgesamt über fast 80 Kilometer zu diversen Wasserfällen und -kaskaden führt, den Thrakischen Silberschatz, der 1963 beim Bau eines Schafstalls entdeckt wurde, das Naturreservat Seweren Dshendem, mehrere römische Festungsruinen, das Kloster »Heilige Dreifaltigkeit«, dessen revolutionäre Nonnen, von der Orthodoxen Kirche längst heilig gesprochen, während des legendären Aprilaufstandes 1876 von Osmanen gemeuchelt worden sind, rund 30 Privat- und Hotelunterkünfte mit zwei bis 34 Zimmern.

Unser Wander-, Besichtigungs- und Übernachtungstest ergibt: alles ordentlich gepflegt, freundlich, ländlich-sittlich. Wobei das andernorts in den bulgarischen Provinzen nicht unbedingt immer ebenso anzutreffen ist. Warum gerade in und um Letnitza? - »Wir stehen bei der Requirierung und Nutzung von EU-Geldern für den ländlichen Tourismus pro Kopf unserer Einwohner an zweiter Stelle im ganzen Land«, sagt der Bürgermeister stolz.

Ähnlich gilt das für die Nachbarkreise Apriltzi und Trojan. Der eine direkt im atemberaubenden Naturpark Zentralbalkan gelegen, der andere bekannt durch sein gleichnamiges Kloster, seine Töpfertradition und das Dörfchen Tschiflik, wo in über 1000 Meter Höhe eine 60 Grad heiße Quelle ein Naturschwimmbad speist. Zusammen mit Lowetsch, der Bezirksstadt, wurde eine tourismuswirtschaftliche Interessengemeinschaft gebildet. Lowetschs Bürgermeister Mintscho Kasandshiew: »Tourismus hat sich als Bulgariens einziger wirklicher Wachstumsfaktor behaupten können. Aus nationaler Sicht müssen wir ihn nun noch stärker saisonunabhängig machen, das heißt ihn auch stärker jenseits der Schwarzmeerküstenzone entwickeln. So, wie beispielsweise hier bei uns«.

Landesweit wurden für die derartige Tourismusförderung laut Auskunft des Ministeriums für regionale Entwicklung seit 2007 rund 220 Millionen Euro bereit gestellt, 186 Millionen davon stammen aus EU-Töpfen. Großstädte und Urlaubsregionen am Schwarzen Meer waren von vorn herein ausgenommen, und es galt laut Ministerium »nicht das Gießkannenprinzip, sondern eine Zuordungsrangfolge nach der Qualität der Projektunterlagen«. Das besagte Gemeindequartett aus dem Zentralbalkan lag dabei sehr weit über dem Durchschnitt.

Zufrieden darüber zeigt sich auch Anatoli Tonew, der in Lowetsch einen kleinen Täschnerladen mit Werkstatt betreibt. »Die Aufträge von Touristen haben gerade in den letzten zwei Jahren deutlich zugenommen«, erzählt er. Wobei die Lage von Tonews Geschäft auch exquisit ist. Es befindet sich auf einer wunderschönen, aus dem 19. Jahrhundert stammenden, überdachten Brücke überm Ossam-Fluss. Jeder und jede, die zur Altstadt Waroscha will oder zum Wassil-Lewski-Denkmal auf der Festung hoch über der Stadt, muss da rüber.

Dieser Wassil Lewski, der 34-jährig im Jahr 1873 in Sofia auf Befehl des osmanischen Sultans Abdülaziz gehenkt wurde, war einer der führenden Revolutionäre der bulgarischen Wiedergeburtszeit - und das Zentrum seiner Bewegung lag in Lowetsch. Überall in Bulgarien stößt man in Amtsstuben wie Privaträumen, in Bahnhöfen oder in Taxis auf Reproduktionen eines der wenigen Lewski-Fotos. Auch beim Täschner Anatoli Tonew. Daraufhin angesprochen, holt er auch gleich noch ein Buch über ihn hervor. Es ist tatsächlich das bulgarische Standardwerk der Historiker Deuno Deunow und Stojan Dshawesow (Sofia, 1986), das auch Lewskis Vorstellungen zum Staat darlegt. »Reine und heilige Bulgarische Republik mit ethnischer und religiöser Gleichheit«, zitiert der Handwerker aus Lowetsch daraus sein großes politisches Vorbild. »Aber es wird noch eine Zeit dauern, bis sich das als Credo in Bulgarien oder gar auf dem ganzen Balkan durchgesetzt hat«, räumt er ein. »Leider sehen junge Leute in Lewski heute wohl mehr einen romantischen Abenteurer, der an ihre Filmactionhelden kaum heran reicht.«

Nicht weit von Lowetsch lässt sich die Dewetaschka-Höhle, die gewaltigste im Zentralbalkan überhaupt, erwandern. Drei Kilometer tief geht es in den Berg hinein, die Gewölbe sind bis zu 60 Meter hoch und auf dem Weg in die Unterwelt immer wieder wie von grandiosen natürlichen Oberlichtfenstern zur Außenwelt durchbrochen. Vor der Höhle steht eine schlichte Bank jüngster Bauart mit einem Gedenkschild. Sie ist Boris III. gewidmet, bis 1943 vorletzter Zar der bulgarischen Neuzeit, der hier des öfteren gesessen haben soll.

Ein umstrittener Monarch. Trotz Vasallenschaft mit Hitler hatte es unter ihm einerseits keine Deportation von bulgarischen Juden gegeben. Andererseits beteiligten sich bulgarische Armee- und Polizeieinheiten unter seinem Oberbefehl als Besatzer in Nachbarländern maßgeblich an der Ermordung Zehntausender serbischer und griechischer Juden. Mit besagter Gedächtnisbank, ist in Lowetsch zu hören, habe man nur seinen Sohn hofieren wollen. Der war unter dem bürgerlichen Namen Simeon Borissow Sakskoburggotski von 2001 bis 2005 Bulgariens Ministerpräsident. Indes sei erwähnt, dass die Würdigung von Generalmajor Georgi Iwanow mit einem kleinen Museum wesentlich bedeutender als die des Zarewitschs ausfällt. Iwanow, 1940 in Lowetsch geboren, flog 1979 mit Sojus 33 als erster bulgarischer Kosmonaut ins All.

Das Zentrum des bulgarischen Balkangebirges kann natürlich nicht als wirklich repräsentativ für die gesamte Region gleichen Namens gelten. Doch in dem einen wie in der anderen gibt es viel zu entdecken. Und wie gesagt: Horror ist dort nicht, ein bisschen Abenteuer aber schon.

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