Der Konflikt in der Ukraine wurzelt tief in der Gesellschaft

Erkundungsmission von Friedensaktivisten fragte: Gibt es noch Hoffnung auf Dialog und eine Beendigung des Krieges?

  • Lucas Wirl
  • Lesedauer: 4 Min.
Mit einer Erkundungsmission (»Fact Finding Mission«) der Europäischen Linken und verschiedener Netzwerke der internationalen Friedensbewegung bereiste unser Autor kürzlich die Ukraine.

Der Konflikt in der Ukraine wird allzu oft durch Schwarz-Weiß-Malerei - hier die Guten, dort die Bösen - dargestellt. Nicht nur in westlichen Medien, sondern auch in der Ukraine und wahrscheinlich auch in Russland. Um die Situation im Lande kennenzulernen und die Chancen auf eine sofortige Beendigung der Kämpfe einschätzen zu können, führte die Mission der internationalen Friedensbewegung in Kiew, Charkiw und Donezk Gespräche mit Vertretern der Zivilgesellschaft aller Konfliktseiten.

Vor allem im Westen der Ukraine werden auf den großen Nachbarn im Osten viele Feindbilder projiziert. »In Russland herrscht eine Ideologie, die das menschliche Bewusstsein versklavt«, sagte ein auf dem Maidan aktiver Charkiwer Psychologe und setzte fort: »Alle europäischen Nationen kämpften an einem bestimmten Punkt der Geschichte für ihre Freiheit und Unabhängigkeit. Alle Nationen haben ihren Preis dafür bezahlt, und nun ist es an der Zeit, dass die Ukraine ihren zahlt.«

Russland und den Russen eine »sklavische« Ideologie zuzuschreiben, ist noch eine der »netteren« Erklärungen für die Zuspitzung der Ereignisse. Auf dem Kiewer Maidan findet man überall »Souvenirs« mit Vergleichen zwischen Hitler und Putin. Vorwürfe, auf der anderen Seite handle es sich um Faschisten, werden inflationär verbreitet. Die Angst vor dem großen Nachbarn sitzt tief und prägt den herrschenden Patriotismus teilweise stark militaristisch. Oleksander, ein ukrainischer Autor, bekennt, dass er ohne Zögern zu den Waffen greifen würde, um im Donbass sein historisch, kulturell und gesellschaftlich reiches Land gegen die Russen zu verteidigen.

Vertreter der in der Ukraine nicht als Partei zugelassenen Organisation Borotba (Kampf) stehen auf der anderen Seite des Konflikts. Sie gehören zum Anti-Maidan und kritisieren einen zunehmenden Nationalismus, der andere Kulturen und Meinungen ausgrenzt. Auch sie bezeichnen die andere Seite als faschistisch und scheren damit eine ganze Bewegung über einen Kamm. Ein um sein Leben fürchtender Kiewer Borotba-Vertreter berichtete von der kulturellen und ethnischen Vielfalt des Landes, in dem nicht nur Russen als Minderheit, sondern über 100 Ethnien leben. Durch eine kulturelle Hegemonie und eine forcierte Ukrainisierung würden deren Kulturen unterdrückt.

Vertreter der »Donezker Volksrepublik« sehen in der EU-Annäherung der Ukraine den Hauptgrund ihrer Separationsbemühungen, betrachten sich andererseits als von Russland unabhängig. Sie argumentieren, dass die Industrie des Donbass auf dem EU-Markt nicht wettbewerbsfähig wäre und begründen damit ihre Abspaltung von der Ukraine. Die zivile Regierung in Donezk zeigte sich zu Gesprächen mit der ukrainischen Regierung bereit - wenn bestimmte Bedingungen erfüllt werden. Dazu gehört für sie die gegenseitige Anerkennung der unabhängigen Republiken Donezk und Lugansk und des ukrainischen Staates.

Viele der Pro-Maidan-Gesprächspartner erkennen dagegen keinerlei legitime Ansprüche der Donbass-Region auf Selbstbestimmung. Sie beharren darauf, dass die »Volksrepubliken« durch kriminelle und terroristische Kräfte aus Russland gelenkt werden. Maria vom Koordinierungskomitee des Kiewer Maidans urteilte resolut: »Auf dem Maidan wurde für alle Ukrainer gekämpft, aber die Menschen aus dem Donbass verstehen das nicht.« Sie nannte verschiedene militärische Machthaber und kriminelle Banden, die im Donbass nur ihre eigenen Interessen verträten.

Gibt es dennoch Chancen auf Dialog und Ausgleich in der Ukraine? Alle Gesprächspartner betonten die Möglichkeit des Dialogs, auch wenn er sehr schwierig wäre. Die Frage ist, zu welchen Bedingungen der immer blutiger werdende Krieg gestoppt werden kann, welchen Grad von Kompromissbereitschaft beide Seiten zu zeigen bereit sind. Der sichtbare Einfluss westlicher und vor allem US-amerikanischer Softpower auf dem Maidan erschwert Kompromisse sicherlich.

Eine andere Frage ist, welches Interesse die Machthabenden an einer Beendigung des Krieges haben. In den Gesprächen war oft die die Rede von ähnlichen Interessen auf allen Seiten, die für einen längeren Konflikt sprächen: Umfragewerte von Politikern, Ablenkung von den großen gesellschaftlichen Problemen, Profitinteressen einzelner Oligarchen ...

Mit dem Abschuss der malaysischen Passagiermaschine wird eine Politik der Entspannung noch schwieriger werden. Die internationale Friedensbewegung muss ungeachtet dessen weiter auf eine friedliche Lösung des Konflikts hinwirken. Die Vorbereitung einer Konferenz des zivilgesellschaftlichen Dialogs in der Ukraine wird eine weitere Erkundungsmission zum Ziel haben.

Lucas Wirl ist Programmdirektor des Internationalen Netzwerks von Ingenieuren und Wissenschaftlern für Globale Verantwortlichkeit (INES)

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