Wie die Briten germanisiert wurden

Genetische Studie zeigt, dass angelsächsische Minderheit einst in England ihr Erbgut durchsetzte

  • Steffen Schmidt
  • Lesedauer: 4 Min.
Die doppelte Bedeutung von »German« im Englischen kann leicht für Verwirrung sorgen. Wenn etwa die »Germans« aus der Überschrift einer Pressemitteilung der englischen Universität Reading kurzerhand zu »Deutschen« werden, obwohl die gemeinten Angeln, Sachsen und Friesen sich im fünften Jahrhundert wohl noch nicht einmal als Germanen verstanden haben dürften. Normalerweise wäre eine solche Verwirrung eher unwichtig. Doch bei der Studie, die in der Pressemitteilung vorgestellt wurde, ging es für Nationalisten ans Eingemachte: die genetischen Ahnen der heutigen Engländer. Der Populationsgenetiker Mark Thomas vom University College London, der Bioinformatiker Michael Stumpf vom Imperial College London und der Archäologe Heinrich Härke von der Uni Reading haben nämlich herausgefunden, dass zumindest in der männlichen Linie weit mehr als die Hälfte der heutigen Engländern genetisch nicht von den rund zwei Millionen romanisierten keltischen Briten abstammen, sondern von den höchstens 200 000 Germanen, die im fünften Jahrhundert den größten Teil der Insel eroberten. Dieses bereits früher durch Analysen des Y-Chromosoms, das nur bei männlichen Menschen vorkommt, gefundene Ergebnis stieß bei Historikern auf Widerspruch. Sie fragten, wie eine so kleine Gruppe eine so deutliche Bevölkerungsmehrheit assimilieren hätte können. Immerhin fanden sich von den rund 500 Jahre später in England eingefallenen Normannen nach Auskunft von Härke vergleichsweise wenige genetische Spuren in der heutigen Bevölkerung, obwohl auch diese das Land vergleichsweise lange beherrschten. Die drei Wissenschaftler versuchten nun durch statistische Modelle am Computer, bekannte archäologische Befunde, überlieferte Texte wie die Gesetzessammlung des englischen Königs Ine von Wessex und die genetischen Daten unter eine Hut zu bekommen. In ihren Computersimulationen kamen sie zu dem Ergebnis, dass die Angelsachsen den von Briten bevölkerten Teil der Insel südlich des römischen Hadrianswalls mit Hilfe einer Rechtsordnung, die an die aus dem alten Südafrika bekannte Apartheid erinnert, germanisiert hatten. In den »Proceedings of the Royal Society« (Reihe B, doi: 10.1098/rspb.2006.3627) schreiben sie, dass in den Gesetzen von Ine aus dem siebenten Jahrhundert Angelsachsen und die als »Welsh« bezeichneten eingeborenen Briten einen deutlich unterschiedlichen Sozialstatus zuschreiben. So musste für einen getöteten Angelsachsen ein bis zu fünfmal höheres Blutgeld bezahlt werden als für einen erschlagenen Briten. Und Regelungen anderer germanischer Erobererer aus dieser Zeit nach dem Zusammenbruch des weströmischen Reiches lassen annehmen, dass die Angelsachsen in England ebenso wie später die Normannen und vor ihnen die Goten in Südfrankreich und Spanien Ehen zwischen den ihren und der einheimischen Bevölkerung verboten hatten. Das Ergebnis dieser »Apartheid«-Politik und der deutlich schlechteren ökonomischen Lage der Briten: Die Angelsachsen hatten über mehrere Jahrhunderte deutlich höheren Fortpflanzungserfolg. In den Modellrechnungen genügt bereits ein 1,5-facher Fortpflanzungsvorteil, um innerhalb von 15 Generationen zur genetisch dominanten Gruppe zu werden. Das schlug sich nicht nur in den Genen nieder, auch in der Sprache. Im modernen Englisch gibt es nur wenige keltische Spuren, Römer und Normannen brachten deutlich mehr in den englischen Wortschatz ein. Ob die strenge Trennung allerdings Nachkommen angelsächsischer Väter mit britischen Müttern genauso stark verhinderte wie solche britischer Väter mit angelsächsischen Müttern, lässt die Untersuchung offen. Dazu hätten genetische Daten aus den Kraftwerken der Zelle, den Mitochondrien, ausgewertet werden müssen. Koautor Michael Stumpf glaubt, dass es durchaus wahrscheinlich sei, dass sich in der weiblichen Linie ein deutlich höherer Anteil der Urbriten-Gene erhalten haben. Für eine Mitochondrien-Studie, so der Archäologe Härke, seien vor Jahren vergeblich Forschungsmittel beantragt worden. Interessant wäre nach Ansicht des Archäologen auch ein Vergleich mit anderen Ländern, die im Zuge der Völkerwanderung erobert worden waren. So habe es im heutigen Ost-Österreich und Ungarn ein Reich der turksprachigen Awaren gegeben und die ebenfalls zu den Turkvölkern gehörigen Protobulgaren schufen im von Slawen besiedelten Balkanland ihren Feudalstaat. In beiden Fällen hinterließen die Eroberer jedenfalls kaum sprachliche Spuren. Ob sich aber bei den heutigen Österreichern und Bulgaren genetisch noch nennenswerte Hinweise auf ihre frühmittelalterlichen Beherrscher finden, blieb bislang unerforscht Zumindest für die fehlenden Aspekte der genetischen Geschichte der Engländer bekämen die Forscher heute vermutlich leichter Geld, denn derzeit interessiert sich in Großbritannien die Politik vor dem Hintergrund eigener Probleme mit Auswirkungen der Migration wieder deutlich mehr für die Geschichte der Bevölkerungswanderungen. Interessant dürfte allerdings werden, was die Politik mit den Ergebnissen solcher Forschungen anfangen will. Denn anders als »Wirtschaftsflüchtlinge« früherer Jahrhunderte kommen die heutigen Einwanderer ja nicht mehr als Eroberer.

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