Ausnahmeleistungen werden nicht geduldet

Markus Rehm und Trainerin Steffi Nerius reagieren enttäuscht auf die Nichtnominierung des Weitspringers zur EM

  • Lesedauer: 7 Min.
Paralympics-Sieger Markus Rehm sprang mit einer Prothese am rechten Bein zum Deutschen Meistertitel unter Nichtbehinderten. Zur EM wurde er am Mittwoch trotzdem nicht nominiert, obwohl der 25-Jährige zudem die nötige Norm erfüllt hatte. Mit dem Ausnahmetalent aus Leverkusen und der Ex-Speerwurfweltmeisterin Steffi Nerius, die von den nd-Lesern zuvor zur Trainerin des Jahres gewählt wurde, traf sich Oliver Händler im Trainingslager im Bundesleistungszentrum in Kienbaum. Beide kritisieren im Gespräch, dass Rehms herausragende Leistungen nur auf seine Prothese reduziert werden und die Nichtnominierung auf wissenschaftlich sehr wackligen Beinen steht.

nd: Herr Rehm, zunächst herzlichen Glückwunsch zum Meistertitel.

Danke.

Die viel diskutierte Entscheidung

Markus Rehm darf trotz erfüllter Norm nicht bei den Europameisterschaften in Zürich (12. bis 17. August) starten. Der Deutsche Leichtathletik-Verband (DLV) verzichtete auf seine Nominierung in das 93-köpfige EM-Aufgebot. »Die mechanischen Bedingungen von einem Feder- und einem Muskel-Knochen-System sind unterschiedlich. Es ist nicht der gleiche Weitsprung«, sagte DLV-Cheftrainer Idriss Gonschinska. »Es gab Zweifel an der Vergleichbarkeit der Leistungen. Er besitzt eine unglaubliche Abflugeffizienz. Dadurch lässt sich eine Merkmalsdifferenz ableiten.«

Professor Gert-Peter Brüggemann vom Institut für Biomechanik an der Deutschen Sporthochschule Köln räumt einem möglichen Einspruch gegen die Nicht-Nominierung große Chancen ein. »Ich bin bei der aktuellen Datenlage fest davon überzeugt, dass ein Protest vor dem Internationalen Sportgerichtshof gute Aussichten hätte«, sagte Brüggemann. Mit der in Ulm vorgenommenen Studie könne »ein Vorteil nicht seriös nachgewiesen worden sein. Ich finde es nicht gut, wenn solche Entscheidungen auf Spekulationen beruhen. Damit wird man behinderten Sportlern nicht gerecht.«

Kritik an der DLV-Entscheidung gab es auch von Friedhelm Julius Beucher, dem Präsidenten des Deutschen Behindertensportverbandes: »Für uns ist die Entscheidung, den deutschen Meister nicht in das EM-Aufgebot zu berufen, einfach nur enttäuschend«, sagte Beucher. Man empfinde sie als Rückschritt in den Bemühungen um eine Gleichstellung von behinderten und nichtbehinderten Sportlern.

Ob Rehm seinen Meistertitel behalten darf, ist noch nicht entschieden. Für den Weitsprungwettbewerb bei der EM wurden vom DLV der DM-Zweite Christian Reif (Rehlingen) sowie Julian Howard (Karlsruhe) und Titelverteidiger Sebastian Bayer (Hamburg) nominiert. Die DLV-Verantwortlichen verließen sich bei der Einschätzung hauptsächlich auf die Werte der Wettkampfanalyse, weniger auf das Ergebnis der biomechanischen Untersuchungen. »Es gab erhebliche Zweifel, ob es vergleichbare mechanische Bedingungen zwischen den Springern gibt«, meinte Gonschinska.

Plausibel sei die Tatsache, dass das Sprunggelenk bei den Springern ohne Behinderung beim Absprung »kollabiere«, was Rehm einen Vorteil verschaffe. Einzelne Werte würden dies belegen, erklärte der Trainer. Auch Sportwissenschaftler und Biomechaniker Veit Wank sagte, »dass ein Vorteil durch die Prothese den entscheidenden Punkt« bringe.

DLV-Präsident Clemens Prokop betonte ungeachtet einzelner Kritiker, dass die Inklusion im Verband »gelebt« werde und »höchste Priorität« besitze. Der DLV will das Begehren vorantreiben, dass der Weltverband IAAF künftig klar regelt, unter welchen Bedingungen und mit welchen Hilfsmitteln behinderte Athleten bei Veranstaltungen von Nicht-Behinderten starten dürfen. SID/nd

Sie wurden trotz des Titels und gesprungener Norm nicht vom Deutschen Leichtathletik-Verband (DLV) für die EM der Nichtbehinderten nominiert - entgegen dessen eigenen Richtlinien. War das für Sie überhaupt noch vorstellbar?

Klar war es das. Ich war selbst gespannt und finde es jetzt schade und etwas enttäuschend. Das muss ich erst einmal verdauen. Ich bin auf die Begründung gespannt.

Nerius: Vorstellbar war es allemal. Ich wollte Markus auch nicht in die Situation bringen, sich auf irgendetwas zu freuen und dann enttäuscht zu werden. Letztendlich hat er trotzdem schon jetzt eine super Saison mit einer sensationellen Bestleistung abgeliefert. Die EM wäre das i-Tüpfelchen gewesen. Wir haben aber noch die Europameisterschaft der gehandicapten Sportler in Wales Mitte August.

Den Verbänden wird vorgeworfen, dass sie längst hätten klären können, ob Ihre Prothese ein unzulässiger technischer Vorteil sei oder nicht. Was ist so schwer daran, die Federkraft einer Prothese mit der durchschnittlichen Sprungkraft eines Wadenmuskels zu vergleichen?

Wer es sich so einfach macht, führt eine viel zu laienhafte Untersuchung durch, denn auch der Anlauf muss betrachtet und mit dem Sprung und der Landung als Gesamtsystem analysiert werden. Das ist schon deutlich komplizierter. Meine Anlaufgeschwindigkeit ist geringer. Also hätte auch die Frage in Betracht gezogen werden müssen, ob überhaupt die Möglichkeit besteht, mit so einer Kompromissprothese so schnell anzulaufen wie Nichtbehinderte?

Sie hatten angedeutet, im Fall der Nichtnominierung auf eine Klage zu verzichten. Bleibt es dabei?

Ich habe gesagt, dass ich diesen Weg erst mal nicht gehen möchte. Ausgeschlossen habe ich ihn natürlich nicht. Wenn die DLV-Entscheidung klug war, ist das keine Option für mich. Wenn ich aber Zweifel an der Begründung habe, werde ich mich beraten.

Sie laufen langsamer an, springen aber die gleiche Weite. Das suggeriert doch bereits, dass Ihnen die Prothese beim Absprung hilft. Das ist auch die Argumentation des DLV.

Ich sehe das als Ausgleich im kompletten Sprung von A bis Z. Auch bei nicht gehandicapten Athleten gibt es Riesenunterschiede. Manche kommen über einen schnellen Anlauf, andere sind auch relativ langsam, haben aber beim Absprung eine höhere Vertikalgeschwindigkeit.

Nerius: Es ist tatsächlich wichtig, dass man das Optimum für sich herausfindet. Du kannst nicht wie ein Gestörter auf den Balken losballern und dann irgendwie springen. Dann brichst du am Absprung zusammen.

Herr Rehm, wurden Sie überrascht davon, was nach dem Titel in Ulm alles auf Sie zukam?

Ich habe nicht damit gerechnet, dass ich Deutscher Meister werde. Aber dass es zu dieser Grundsatzdiskussion kommen würde, war mir klar. Jetzt wird sie geführt, und ich finde es gut, dass man das ernst nimmt. Schade ist nur, dass meine Leistungen immer auf die Prothese reduziert werden, aber damit muss ich umgehen. Ich weiß für mich, dass ich nicht alles auf die Prothese schieben kann. Da bin ich mit mir im Reinen.

Sie sagten kürzlich, Sie seien für Kompromisse bereit. Würden Sie also zur Not auch außer Konkurrenz starten?

Darüber hätte man reden können, ich bin für alles offen, wenn wir das gemeinsam entscheiden. Ich werde es sicherlich nicht selbst vorschlagen, weil es sonst heißt: »Der macht einen Rückzieher, hat irgendwas zu verbergen!« Das habe ich aber nicht. Ich war für jede Untersuchung offen im Vorfeld, und wenn ich herausfinde, dass ich einen Vorteil habe und das auch vernünftig untersucht wurde - nicht nur so laienhaft -, dann streicht mich aus allen Listen raus. Dann ist das Ding erledigt und völlig in Ordnung so. Dann würde ich mich freuen, wenn ich trotzdem noch kommen darf, einfach für einen schönen Wettkampf außerhalb der Konkurrenz.

Die Paralympischen Spiele in London 2012 gewannen Sie mit einer Weite von 7,35 m - damals Weltrekord. In Ulm steigerten Sie den nun nach zwei Zwischenschritten auf 8,24 m. Wie erklären Sie sich diese Leistungsexplosion? Ist es eine neue Prothese oder das Training?

Seit Olympia habe ich meine Feder ein bisschen umgestellt, die kommt nun von einem anderen Hersteller. Das bedeutet aber nicht, dass man damit automatisch weiter springt. Viele meiner Konkurrenten sind auch umgestiegen, springen aber keinen Zentimeter weiter. Für mich war der Umstieg besser, weil ich von der neuen Firma als Sponsor auch finanziell unterstützt werde, und weil er einen besseren Kompromiss zwischen Anlauf und Absprung ermöglicht.

Zur Verdeutlichung: Sie brauchen eine weichere Feder für den schnelleren Anlauf, aber eine härtere für den kraftvollen Absprung, richtig?

Genau. Beim Absprung sollte sie schön hart sein, damit die Energie nicht komplett verpufft. Im Anlauf darf sie ein bisschen weicher sein, um nicht immer so viel Energie reinstecken zu müssen, dass sie überhaupt ihre Arbeit verrichtet, also Energie zurückgibt. Der Weitsprung ist immer ein Kompromiss zwischen Anlaufen und Absprung.

Frau Nerius, wie viel von diesen 90 Zentimetern Steigerung ist der Mensch Markus Rehm, und wie viel die neue, offenbar bessere Feder?

Das kann man nicht so genau sagen. Grundsätzlich die Prothese dafür verantwortlich zu machen, wäre aber falsch, weil sich Markus den Arsch aufreißt und hart trainiert ...

... und sich auch verbessert hat?

Ja. Es war witzig, als wir uns vor Kurzem ein Video von Sprüngen aus dem Jahr 2009 angeschaut haben. Seitdem hat er sich in so Vielem weiterentwickelt: in der Athletik, seiner Muskulatur, der Technik, der Geschwindigkeit. Es ist so schade, wenn alles auf die Feder reduziert wird. Markus kann nichts dafür, dass er bei in Ulm springen durfte, außer dass er die Norm erfüllt hatte. Trotzdem muss er sich nun dafür rechtfertigen, dass er weit gesprungen ist.

Ist der Sport durch seine Prinzipien - der Beste soll gewinnen, und das möglichst fair - ein Lebensbereich, der Inklusion ausschließt?

Rehm: Es ist hier sicherlich schwierig. Inklusion bedeutet ja auch nicht, mich und andere nur aus Mitleid mitspringen zu lassen. Dafür sind unsere Leistungen einfach zu gut. Es hätte sich wohl keiner beschwert, wenn ich nur 7,20 m gesprungen wäre. Dann hätte man gesagt: »Ganz toll, dass du dabei warst.« Aber mit so einer Weite werden die Kritiker lauter.

Der neue Weltrekord liegt gut einen Meter vor der Bestleistung jedes anderen gehandicapten Athleten. Ist Markus ein Ausnahmetalent, trainiert er professioneller, oder hat er die bessere Prothese?

Nerius: Er ist ein Ausnahmetalent. Andere bringen nicht diese nötige Leichtigkeit beim Absprung mit. Zusätzlich ist er ein Athlet, der 150 Prozent im Training gibt und intelligent mitdenkt. Das hat man nicht oft. Die Karbonfeder ist eine, die man mehr oder weniger im Laden von der Stange kaufen kann. Seine Konkurrenten springen zum Teil genau das gleiche Material. Bei Unterschieden unter Nichtbehinderten wird doch auch nicht über bessere Muskelfasern oder längere Oberschenkel diskutiert.

Im Behindertensport hat man das Problem verschiedener Voraussetzungen mittels Umrechnungsfaktoren gelöst. Sollte sich herausstellen, Sie hätten einen zehnprozentigen Vorteil, würden Sie trotzdem mitspringen und sich zehn Prozent der Weite abziehen lassen?

Rehm: Das müsste man mit Experten besprechen. Wir könnten mit dem Wissen, wo der Vorteil liegt, diesen vielleicht auch an der Prothese dämpfen. Wir hätten aber immer noch das Problem, dass Ausnahmeleistungen nicht geduldet werden. Nach jedem superweiten Sprung hieße es direkt wieder, die Prothese sei doch ein größerer Vorteil. Wenn ich wirklich ein Ausnahmetalent bin, bekomme ich nie die Möglichkeit, eine Ausnahmeleistung zu bringen, weil sie immer auf meine Prothese reduziert wird.

Bei den von der DLV zur Begründung herangezogenen Untersuchungen aus Ulm wurde ein Ausnahmespringer wie Sie mit in der Weltelite durchschnittlichen »normalen« Weitspringern verglichen. Reichen die Daten überhaupt zur wissenschaftlichen Analyse aus?

Das ist genau das Problem. Wenn die Entscheidung nur darauf basiert, dann halte ich das für schwierig und unseriös. Man vergleicht mich nur mit deutschen Springern. Fairerweise müsste man die fünf besten gehandicapten mit den fünf besten nichtbehinderten Sportlern vergleichen. Dann würde man schnell merken, dass es andere doch nicht so leicht hinbekommen, weil es eben doch nicht so einfach ist.

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