Ein Begriff als Stöckchen

War die DDR ein Unrechtsstaat? Tom Strohschneider über eine ungeeignete Bezeichnung - die wieder als politische Münze in den Wahlkampf geworfen wurde

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In Hans-Eckardt Wenzels bitterbösem Lied »Klassentreffen« heißt es unter anderem: »Vielleicht wird uns dereinst verziehen / Denn wir stammen ja aus, wir stammen ja aus / dem Unrechts-, dem Unrechtsregime«. Über die Frage von Vergebung und Versöhnung soll es hier aber nicht gehen, sondern um einen politischen Begriff, der im Umfeld ostdeutscher Landtagswahlen nicht zum ersten Mal auf der Wahlkampfbühne auftaucht: der Unrechtsstaat.

Mehr als einmal sind die PDS und später die Linkspartei aufgefordert worden, die DDR als Unrechtsstaat zu bezeichnen – die Bereitschaft dazu galt und gilt der parteipolitischen Konkurrenz als Voraussetzung für Zusammenarbeit und Akzeptanz. Natürlich dient der Begriff auch als Stöckchen, denn um eine ehrliche Debatte darüber, wie sich die soziale und politische Wirklichkeit der DDR in Begriffen abbilden lässt, ging es eigentlich nie. Dann hätte zur Kenntnis genommen werden müssen, dass Fachleute vom Unrechtsstaat nicht sprechen wollen – ohne dass damit auch nur im Ansatz geleugnet würde, dass es in der DDR Unrecht gab.

Ungeachtet dessen hat jetzt die sozialdemokratische Spitzenkandidatin in Thüringen, Sozialministerin Heike Taubert, die Frage wieder zu einer des Wahlkampfes gemacht – wo sie 2009 bereits heftig diskutiert wurde. In der »Frankfurter Allgemeinen« wurde die SPD-Politikerin mit den Worten zitiert, die Linkspartei sei »heute eine normale Partei« unter anderen; »in einer möglichen Koalition«, so schreibt es die Zeitung und meint wohl: davor, müsse aber »deren Verhältnis zur DDR-Vergangenheit geklärt werden«, also das der Linkspartei. Ist es denn ungeklärt? Die Linkspartei hat dazu Beschlüsse gefasst und Konferenzen veranstaltet, Taubert aber lässt ein ganzes »Verhältnis« auf die Frage schrumpfen, »ob die Linke bereit ist, die DDR als Unrechtsstaat zu bezeichnen«.

Man kennt das. Zum Beispiel aus Brandenburg, wo der spätere Justizminister Volkmar Schöneburg nach den Landtagswahlen 2009 als ungeeignet für das Amt bezeichnet wurde, weil er eine differenzierte (und keineswegs unkritische) Beurteilung der DDR-Geschichte abgegeben hatte. Oder aus den Gesprächen zwischen SPD, Grünen und Linkspartei in Nordrhein-Westfalen. Oder aus dem Wahlkampf um das Bundespräsidentenamt 2010, als die Linken-Kandidaten Luc Jochimsen in einem Interview entsprechend befragt wurde - und ihre Antwort, sie betrachte die DDR nicht als Unrechtsstaat per Definition, für heftige Reaktionen sorgte. Vor allem aber dürfte man sich in Thüringen noch gut daran erinnern, was es mit dem abverlangten Bekenntnis zum Begriff Unrechtsstaat auf sich hat.

Dort hatte der damalige SPD-Spitzenkandidat Christoph Matschie, der es dann später vorzog, in eine Koalition mit der CDU einzutreten, schon Monate vor der Landtagswahl 2009 erklärt: »Wer sich weigert, die DDR als Unrechtsstaat zu benennen, rechtfertigt im Nachhinein Mauer, Bevormundung und staatliche Willkür.« Die Formulierung hat es in sich, weil niemand sich gern den Vorwurf gefallen lassen möchte – auch dann nicht, wenn man in der »Benennung« der DDR als Unrechtsstaat eher eine Entnennung der in diesem Land einst herrschenden Verhältnisse sieht.

Der unlängst verstorbene und sehr DDR-kritische Historiker Hans-Ulrich Wehler meinte einmal: »Auf der Ebene des ostdeutschen Strafrechts war die DDR kein ‚Unrechtsstaat‘.« Laut dem Brandenburger Generalstaatsanwalt Eduardo Rautenberg suggeriere der Begriff, dass in der DDR nichts als Unrecht geherrscht habe. Wäre das so gewesen, hätte man nach 1990 indes sämtliche Strafurteile aus DDR-Zeit kassieren müssen. Auch der CDU-Politiker Lothar de Maizière hat einmal erklärt: »Die DDR war kein vollkommener Rechtsstaat. Aber sie war auch kein Unrechtsstaat. Der Begriff unterstellt, dass alles, was dort im Namen des Rechts geschehen ist, Unrecht war.«

Und auch jenseits der Sphäre des angewandten Rechts taugt der Begriff Unrechtsstaat laut dem parteipolitisch ebenfalls unverdächtigen Historiker Christoph Kleßmann wenig: »Plakative Kennzeichnungen wie Unrechtsstaat«, so aufgeschrieben in einer Veröffentlichung der staatsbürgerkundlich engagierten Bundeszentrale für politische Bildung, seien »zur Delegitimierung eines untergegangenen politischen Systems« zwar »verständlich, sie vermögen jedoch komplexe moderne Staatsgebilde kaum angemessen auf den Begriff zu bringen«. Zumal, so Kleßmann weiter, gerade mit Blick auf die letzten Jahrzehnte »der DDR-Erfahrungsgeschichte andere Akzente und deutlichere Differenzierungen gefordert sind«.

Die in der DDR herrschende soziale und politische Wirklichkeit auf einen Begriff zu bringen ist kein leichtes Unterfangen. Die Forderung nach einem Bekenntnis zu einem bestimmten Begriff interessiert sich für das begriffliche Problem aber gar nicht mehr – sondern nur noch für den parteipolitischen Honig, der aus den hervorgerufenen Reaktionen gezogen werden kann. Ein Parteifreund von Heike Taubert hat in einem Landtagswahlkampf einmal gesagt: »Es ist ja nicht so, dass ein idealer Staat auf einen verdammenswerten Unrechtsstaat stieß. Die alte Bundesrepublik hatte auch Schwächen, die DDR auch Stärken.« Und: Die DDR »war gewiss kein Rechtsstaat. Ich verwahre mich aber dagegen, die DDR als den totalen Unrechtsstaat zu verdammen, in dem es nicht das kleinste bisschen Gutes gab.« Der Mann heißt Erwin Sellering und ist heute Ministerpräsident von Mecklenburg-Vorpommern. tos

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