Die heißen Tränen der Humanressource

In dem Zukunftsroman «Der Circle» zeigt Dave Eggers eine Gesellschaft der lebendigen Überwachung und der toten Arbeit

  • Thomas Blum
  • Lesedauer: 6 Min.

Wahnsinn. Das ist der Wahnsinn.« Reden alle Mittzwanziger heute so? Den fast ausnahmslos jungen Menschen in Dave Eggers’ dystopischem Roman »Der Circle« jedenfalls wird genau das reduzierte allgegenwärtige Affirmations- und Deppenvokabular in den Mund gelegt, das Jugendliche und sich für jung Haltende verwenden. Bevorzugt bei ihrer ebenso infantilen wie standardisierten Kommunikation in den sogenannten sozialen Netzwerken, in denen sie ihre Austauschbarkeit demonstrieren sowie ihre Willfährigkeit, jeden Pups, den die hoch technisierte Mediengesellschaft fahren lässt, zu bestaunen wie ein Kind den erleuchteten Weihnachtsbaum.

»Abgefahren«, »super«, »echt cool«, »okay« oder »hundertpro«, so reden sie daher, die Kinder der Jetztzeit, die im Alter von zweieinhalb Jahren gelernt haben, wie man ein Tablet bedient, aber eigenständiges Denken nicht. Sie reden wie Vorabendseriencharaktere und sehen auch so aus. In Eggers’ Roman, der in der nahen Zukunft spielt, tragen sie saubere Button-Down-Hemden und Kapuzenpullis und arbeiten bei dem riesenhaften IT-Konzern »The Circle«.

Der »Circle«, ein gewaltiges, weltweit erfolgreiches Technologie- und Internetunternehmen, das den Eindruck erweckt, der Autor habe es aus den Firmen Google, Amazon, Facebook und Twitter zusammenamalgamiert, gibt sich modern, aufgeschlossen, ökologisch bewusst, liberal. Es hat das System »TruYou« entwickelt, »das alles online kombinierte - die Profile von Usern in Social Media, ihre Zahlungssysteme, ihre diversen Passwörter, ihre E-Mail-Konten, Benutzernamen, Vorlieben, jedes Tool und jeden Ausdruck ihrer Interessen.« Das Zauberwort heißt Transparenz. »Ein Konto, eine Identität, ein Passwort, ein Zahlungssystem pro Person.«

Es herrscht die Ideologie des »Befreiungsmanagements«: flache Hierarchien, permanente »Work-Life-Balance«-Kontrolle, totalitärer Gute-Laune-Zwang: eine riesenhafte Bürogemeinschaft aus »hochmotivierten« jungen Computerarbeitsbienen, die sich gegenseitig zulächeln, überwachen und »motivieren«. In der neuen Galerie des Unternehmens hängt »ein halbes Dutzend Basquiats«, so erfahren wir, »frisch erstanden von einem Museum in Miami, das kurz vor dem Bankrott stand«.

Alle Gebäude sind großzügig angelegte Glasbauten, die jederzeit die Sicht auf die gesamte Umgebung ermöglichen. Totale Transparenz. Auf dem in Kalifornien gelegenen, großzügigen konzerneigenen Firmengelände, einer Mischung aus Sport-, Konsum- und Freizeitpark, kann man kostenlos vegane Burritos und kalorienreduzierten Bio-Riesling konsumieren, Volleyball spielen und in konzerneigenen Mitarbeiterwohnheimen übernachten, wenn es bei der Arbeit mal ein bisschen später wird als sonst. Es ist die Frage, ob es heute einen größeren Horror geben kann als dies: die totale Verschmelzung von Arbeit und Freizeit, permanente kollektive Aktivität, fröhliche Körperertüchtigung und gesunde Ernährung im Dienste der pausenlosen Selbstoptimierung. »Der Trend, Authentizität und andere lebensbejahende Momente in die Arbeit zu injizieren, ist ein zentraler Aspekt der modernen Managerherrschaft«, wie die britischen Sozialwissenschaftler Peter Fleming und Carl Cederström in ihrem großartigen Buch »Dead Man Working« schreiben. »Das Leben selbst wird nun von den Unternehmen geplündert.«

Die einfältige Protagonistin des Romans, die 24-jährige Mae Holland, ist anfangs überglücklich, als es ihr dank einer Freundin gelingt, eine Stelle als Sachbearbeiterin für »Customer Experience« beim »Circle« zu bekommen. »WAHNSINN, DACHTE MAE. Ich bin im Himmel.« Fortan sitzt sie vor einer täglich wachsenden Zahl von Computerbildschirmen, verschickt auf Kundenanfragen Standardmails und ist - zur allgemeinen Stärkung der Corporate Identity und des betriebsinternen Klimas - obendrein zur permanenten, »positiven« Online-Konversation mit der kompletten Firmenbelegschaft verurteilt.

Bis irgendwann klar wird, dass das Unternehmen, das vordergründig die Individualität feiert und vermarktet, mehr und mehr Besitz ergreift vom Leben und Alltag seiner Angestellten, die in Euphemismen sprechen, sich bereitwillig und freudig zur totalen Humanressource formen lassen, als »Gemeinschaft« begreifen und als Kollektiv bzw. »Community« nach und nach jede erforderliche Anpassungsleistung erbringen - weil sie sich von der mit Menschenrechtsrhetorik daherkommenden Heils- und Fortschrittsideologie des »Circle«-Konzerns, der die Phraseologie ethischer Geschäftsführung einsetzt, haben einlullen lassen.

Derzeit wird der Roman von diversen Medien gefeiert als zeitgenössische Variante von George Orwells finsterem Science-Fiction-Roman »1984« und Aldous Huxleys »Schöne neue Welt«, doch in »Der Circle« hat man es weder mit einem staatlichen oder polizeilichen Unterdrückungsapparat zu tun, der das Streben nach individueller Freiheit verfolgt und bestraft, noch mit einem Staatswesen, das seine Bevölkerung durch Konditionierung und Drogen ruhigstellt. Jene Verfahren, die vormals als Praktiken des Staates und seiner Büttel wahrgenommen wurden (Kontrolle, Entmündigung, Disziplinierung), wurden längst erfolgreich vom Individuum internalisiert: In der modernen, digitalen Arbeits- und »Wissensgesellschaft« kontrolliert und diszipliniert dieses sich selbst aus freien Stücken und belohnt sich hernach fürs brave Mittun und Dabeisein durch die Anerkennung, die es online von der »Community« erfährt. Individualität ist erlaubt, da sie ohnehin austauschbar ist. Selbstdisziplinierung, Selbstentmündigung, Einfügung ins Kollektiv und Selbstbestätigung durchs Kollektiv gehen Hand in Hand. Auf dem Weg zur gesellschaftlichen Macht ist hier zwar der Konzern, der die lückenlose Kontrolle über sämtliche Lebensbereiche des Menschen anstrebt, doch vom Einzelnen wird die Anpassung jederzeit freiwillig im Dienst der großen Sache und im Zeichen der Individualität (»Transparenz«, »Wissensgesellschaft«) geleistet, persönliche Daten werden freimütig hergegeben, man lässt sich gern verfügbar machen, bewerten und verwerten. Was früher Überwachung hieß, heißt heute allseitige Transparenz. Was früher Arbeit hieß, ist hier die auf Dauer gestellte, ununterbrochene »Kommunikation« mit der »Community«.

Der US-amerikanische Schriftsteller Dave Eggers selbst, Jahrgang 1970, Internet- und Social-Media-Skeptiker, bezeichnete kürzlich in einem Interview mit der »Frankfurter Allgemeinen Sonntagszeitung« den allgegenwärtigen Zwang zur digitalen Kommunikation über Mobiltelefone, E-Mails und Internet als »Terror des permanenten Kontakts«.

In seinem neuen Roman pflegt er einen wenig elaborierten Stil, der mal ins offen Kitschige (»es tat gut, zu weinen, die Schultern beben zu lassen, die heißen Tränen auf dem Gesicht zu spüren«), mal ins schwer Prätentiöse lappt (»hohe Bäume, durch die das Mondlicht geschossen kam, hundert silberne Speere«). Seine Figuren, die »Circle«-Mitarbeiter, sind leer lächelnde Pappfiguren, hinter deren Lächeln sich nichts verbirgt. »Ein Mann von Ende zwanzig mit schütterem Haar«, »eine vollschlanke Frau mit makelloser kupferfarbener Haut«, »ein attraktiver Mann, kompakt und adrett«, »ein dünner Mann in einem roten Reißverschlusshemd«, »ein sanftmütig aussehender Mann von etwa fünfunddreißig«. Möglicherweise kultiviert Eggers ja diese armseligen erzählerischen Mittel, weil er seine Figuren schon von Anfang an als »jene Zombies« kenntlich machen will, »zu denen sie der Sozialterror der Transparenzhölle erst machen wird«, wie die »FAZ« schreibt. Doch wahrscheinlicher ist, dass die durchgenormte Textbausteinprosa, in der der Roman verfasst ist, dem Umstand geschuldet ist, dass hier alles vor allem herausposaunte gesellschaftskritische Botschaft sein will. »Sie formte den Mund zu einem Lächeln«, »sein Gesicht war ein sanftes Dreieck«, »die hohen Wangenknochen verliehen ihr eine gewisse Strenge, und die braunen Augen lächelten nicht, waren nur klein und kalt«, »Annies Augen leuchteten verschmitzt«. Mit Verlaub, das ist Sprachmüll. Da mag Eggers’ originelle Geschichte über den »Totalitarismus der Transparenz« (»Die Zeit«), der kein Geheimnis mehr kennt, noch so anschaulich Gefahren unserer Gegenwart abbilden wollen.

Dave Eggers: Der Circle. Kiepenheuer & Witsch. Aus dem amerikanischen Englisch von Ulrike Wasel und Klaus Timmermann, 560 S., geb., 22,99 €.

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