Streit in der NATO über Russland-Vertrag

Osteuropäer stellen Gründungsakte offen infrage / Bundesregierung: Nicht daran rütteln / Ukrainischer Präsident trifft vor Beginn des Waliser Gipfels Obama, Cameron, Hollande, Renzi und Merkel

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Berlin. Vor dem Gipfel der Staats- und Regierungschef der NATO, der am Donnerstag in Wales beginnt, gehen die Meinungen über die Politik des Bündnisses gegenüber Russland auseinander. Das Treffen der Staats- und Regierungschefs dürfte auf jeden Fall ein Wendepunkt im Verhältnis mit Russland nach Ende des Kalten Krieges sein. Die Allianz hatte bereits die Beziehungen zu Moskau auf Eis gelegt. Offen ist, ob die 28 Bündnispartner bereit sind, auch Verträge mit Russland aufzukündigen. Darüber wird vor allem in den baltischen Staaten und Polen nachgedacht.

Polens Verteidigungsminister Tomasz Siemoniak stellte die NATO-Russland-Gründungsakte offen infrage. Der »Welt« sagte er, die Beziehungen der NATO zu Russland müssten grundsätzlich neu ausgerichtet werden. »Die NATO muss ihre Mitglieder verteidigen und nicht auf Dokumente schauen.« Auch Estlands Präsident Toomas Hendrik Ilves äußerte diese Position. »Wenn eine Vereinbarung in bestimmen Teilen nicht mehr gilt, ist es an der Zeit, etwas zu ändern«, sagte er am Mittwoch nach einem Treffen mit US-Präsident Obama in Tallinn. Russland habe die Bestimmungen der Vereinbarung verletzt und eine »unvorhersehbare und neue Sicherheitsumgebung« geschaffen. Auch US-Präsident Barack Obama räumte ein, dass sich die Umstände »klar verändert« haben. Dies werde ein Diskussionspunkt auf dem NATO-Gipfel sein.

Die Gründungsakte von 1997 legt Beschränkungen bei der Stationierung von Truppen in Osteuropa fest. Nicht alle Verbündeten wollen so weit gehen wie die Osteuropäer. Die Bundesregierung will trotz der Rolle Russlands im Ukraine-Konflikt nicht an der NATO-Russland-Gründungsakte rütteln. Die Regierung stehe zu der Vereinbarung - trotz mancher Enttäuschung über die russische Politik in den vergangenen Wochen, sagte Regierungssprecher Steffen Seibert am Mittwoch in Berlin.

Vor Beginn des Gipfels wird der ukrainische Präsident Petro Poroschenko, Obama, den britischen Premierminister David Cameron, den französischen Präsidenten François Hollande, die deutsche Bundeskanzlerin Angela Merkel und den italienischen Ministerpräsidenten Matteo Renzi treffen. Nach britischen Regierungsangaben wird Poroschenko seine Einschätzung der Lage vortragen. Die Begegnung solle ein klares Zeichen der Unterstützung für die ukrainische Souveränität darstellen, hieß es.

Obama und Cameron schrieben in einem Beitrag für die »Times«, die NATO solle eine dauerhafte Präsenz in Osteuropa sicherstellen. Russland habe die Regeln mit der illegalen Annexion der Krim und Soldaten auf ukrainischem Boden verletzt. »Wir sollten das Recht der Ukraine seine eigene demokratische Zukunft zu bestimmen unterstützen«, erklärten Obama und Cameron..

Die NATO will zudem eine schlagkräftige, möglicherweise 4000 Soldaten starke Eingreiftruppe aufstellen. Die Einheiten sollen sehr schnell verlegt werden können, wenn Alliierte in Ost- und Mitteleuropa von Russland bedroht werden.

Rumänien erwartet den Einsatz von NATO-Kampfflugzeugen zur Unterstützung der Luftpolizei. Wie Staatspräsident Traian Basescu am Mittwochabend mitteilte, könnten dafür bis zu 200 Nato-Soldaten in Rumänien stationiert werden. Ferner wolle Rumänien die Federführung im Nato-Programm zur Abwehr von Cyber-Angriffen auf die Ukraine übernehmen, sagte Basescu.

Nach massiver Kritik westlicher Partner entschied Frankreich derweil, einen für Russland gebauten Hubschrauberträger der Mistral-Klasse nun vorerst doch nicht auszuliefern. Die Bedingungen seien angesichts der Ukraine-Krise aktuell nicht gegeben, teilte der Élysée-Palast kurz vor Beginn des Nato-Gipfels mit. Bisher hatte die Regierung argumentiert, Frankreich sei an die Verträge für die Lieferung gebunden. Bei der Nato wurde die Entscheidung begrüßt. Das 199 Meter lange Schiff eignet sich unter anderem als schwimmende Kommandozentralen und zum Transport von Truppen und Ausrüstung. An Bord befinden sich sechs Startplätze für bis zu 30 Hubschrauber.

Aus der Gründungsakte

Die Beziehungen zwischen Russland und der Nato wurden im Mai 1997 in der Gründungsakte des NATO-Russland-Rates geregelt. Unter anderem heißt es darin (Übersetzung der dpa):

»Die NATO und Russland betrachten einander nicht als Gegner. (...) Die NATO bekräftigt, dass die Allianz in der derzeitigen und vorhersehbaren Sicherheitsumgebung ihre gemeinsame Verteidigung und andere Aufgaben durch die nötige Interoperabilität, Integration und Fähigkeit zur Verstärkung wahrnehmen wird statt durch die zusätzliche permanente Stationierung substanzieller Kampftruppen. Dementsprechend wird sie sich auf eine angemessene Infrastruktur, die den oben genannten Aufgaben entspricht, stützen müssen.

In diesem Zusammenhang können, sofern nötig, Verstärkungen im Fall der Verteidigung gegen eine drohende Aggression vorgenommen werden sowie zur Unterstützung von Friedensmissionen im Einklang mit der UN-Charta und den Grundsätzen der OSZE ebenso wie für Übungen im Einklang mit dem angepassten KSE-Vertrag (über konventionelle Streitkräfte), den Vorschriften des Wiener Dokuments 1994 und gegenseitig vereinbarten Transparenzmaßnahmen. Russland wird eine ähnliche Zurückhaltung bei der Stationierung seiner konventionellen Streitkräfte in Europa walten lassen.« dpa/nd

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