Die Heuchelei aus der Türkei

Giyasettin Sayan zum Islamischen Staat und der Situation an der Grenze zu Syrien

  • Lesedauer: 5 Min.
Giyasettin Sayan (Jahrgang 1950), geboren in Hasköy, Türkei, ist kurdischer Herkunft und war von 1995 bis 2011 Mitglied des Abgeordnetenhauses von Berlin für die PDS bzw. die LINKE und dort unter anderem migrationspolitischer Sprecher). Derzeit ist er Vorsitzender der Kurdischen Gesellschaft für die Vereinten Nationen. Über die alarmierende Situation an der syrisch-türkischen Grenze sprach mit ihm Roland Etzel.
Giyasettin Sayan (Jahrgang 1950), geboren in Hasköy, Türkei, ist kurdischer Herkunft
Giyasettin Sayan (Jahrgang 1950), geboren in Hasköy, Türkei, ist kurdischer Herkunft

nd: Die Arbeiterpartei Kurdistans (PKK) hat gerade die Kurden in der Türkei zum bewaffneten Kampf gegen die Terrororganisation Islamischer Staat (IS) aufgerufen. Halten Sie das für den richtigen Weg?
Sayan: Nicht die PKK, sondern die Demokratische Partei der Völker in der Türkei hat erklärt, die kurdischen, aber auch türkischen Menschen sollten gegen IS mobil machen und die Menschen in Rojava – die kurdische Region in Nordostsyrien – vor Angriffen von IS schützen.

Noch mal meine Frage, halten Sie das für den richtigen Weg?
Ja, ich denke die ganze Welt muss das tun. In der Gefahr eines Genozids kann man auf bewaffneten Kampf nicht verzichten, vor allem in einem Land, wo ein Völkermord geschehen ist. Wenn ein Volk in seiner Existenz bedroht wird, egal ob in Kurdistan, Südafrika oder sonst wo, muss man mobil machen.

Sollte man nicht statt eines isolierten Aufrufs besser nach Verbündeten suchen?
Das tun die Kurden, zum Beispiel der Vorsitzende Partei der kurdisch-syrischen Demokratischen Union, Saleh Muslim, auch die Kopräsidentin des Volksrates in Rojava, Mohamed Sinem, die am Freitag in Berlin war, hat gesagt: Wir sind umzingelt, also brauchen wir von überall Hilfe.

Am Wochenende haben wir gehört, dass die Türkei Zehntausende Flüchtlinge aufgenommen hat, aber auch, dass sie sie nur widerwillig ins Land gelassen habe. Was befürchtet denn Ankara von den Flüchtlingen – oder sehen Sie einen anderen Grund?
Zwei Gründe. Die Türkei versucht einerseits seit drei Jahren, die Islamisten zu unterstützen und türkische Waffen zu schicken. Letzteres wurde bewiesen und dokumentiert, auch von Amerikanern. Bei getöteten IS-Leuten fand man Produkte der Marke MKI, das ist eine Waffenfabrik in der Türkei. Ankara schickt Waffen. Bezahlt werden sie von Katar und Saudi-Arabien. Außerdem werden in der Türkei in Moscheen öffentlich Leute für den IS rekrutiert.

Auf der anderen Seite drängt die Türkei IS dazu, kurdisches Gebiet in Syrien von Kurden zu »befreien«. Das ist die große Heuchelei: wenn sie den Strom von Flüchtlingen beklagt, den sie zum Teil selbst verursacht hat. Man strebt nach einer »Pufferzone«, so dass weitere Flüchtlinge auf syrisch-kurdischem Gebiet, nicht auf türkischem Gebiet ankommen. Andererseits soll die internationale Gemeinschaft akzeptieren, dass dort eine Militärzone eingerichtet wird. Militärzone heißt nichts anderes als: Zusammenarbeit mit IS, um ein IS-Kalifat an der Grenze zu errichten. Das wäre eine Katastrophe für alle Kurden.

Kamen die Angriffe jetzt überraschend für die Betroffenen?
Nein, Kämpfe hat es immer wieder gegeben. Versuche von IS, das sogenannte Kobane-Gebiet zu erobern, hat es immer gegeben. Aber sie wurden immer zurückgeschlagen. Es hat wohl auch mit der Freilassung der 49 türkischen Geiseln zu tun, die IS bei der Eroberung von Mossul in Nordirak vor drei Monaten genommen hatte. Es existieren Vermutungen auf Seiten der Kurden, dass es da eine Abmachung mit IS gegeben hat: Ihr gebt uns unsere Geiseln und wir geben euch Waffen, damit ihr Kobane erobert. Das ist Teil der Strategie, dort eine Pufferzone zu errichten.

Kobane ist die größte Stadt im kurdisch-syrischen Gebiet?
Kobane ist ein Gebiet von etwa 1000 Quadratkilometern mit sonst etwa 180 000 Bewohnern, aber jetzt auch 200 000 Binnenflüchtlingen – Christen, Jesiden, Alewiten, die aus dem syrischen Teil geflohen sind und nicht in die Türkei wollten.

Sie veranstalteten am Freitag über die Organisation UNA-Kurd, der Sie auch vorstehen, eine Konferenz zum drohenden Genozid im Nahen Osten. Was sagten die Experten?
Alle haben von Völkermord gesprochen, weil IS das Ziel hat, die Region von allen Bewohnern, die keine oder ihrer Meinung nach keine richtigen Muslime sind, zu »säubern«. Dazu gehören die Kurden; dazu Alewiten, Jesiden, Christen, Armenier.

Kann Deutschland etwas für die bedrohten Menschen tun? Wenn ja, was sollte es sein?
Also Deutschland kann sich sehr nachdrücklich bei der UNO dafür einsetzen, dass Katar und die Türkei, zwei Verbündete Deutschlands, den IS nicht mehr unterstützen, dass sie ab sofort auf die Terrorliste gesetzt und ihre Rekrutierungsmaßnahmen in der Türkei verboten werden. Desgleichen der Transport und die Behandlung von verletzten IS-Kämpfern in der Türkei.

Und in Deutschland selbst?
In verschiedenen europäischen Ländern gibt es viele Moscheen – zum Beispiel auch hier in Berlin –, die Kämpfer für IS rekrutieren. Syrer, die hier geboren und aufgewachsen sind, werden einer Gehirnwäsche unterzogen, um sie dann nach Syrien, Irak oder auch Afghanistan zu schicken. Das passiert in Moscheen, und das muss unterbunden werden. Ich kenne hier in Wedding einige, die das gemacht haben.

Wie soll der Staat das verhindern?
Der Staat muss feststellen, welche Moscheen in solche Aktivitäten verwickelt sind. Und das muss dann gesetzliche Konsequenzen haben.

Der Vorsitzende des Zentralrats der Muslime in Deutschland, Aiman Mazyek, hat vorige Woche erklärt, dass sein Verband in dieser Hinsicht alles ihm Mögliche tue.
Das ist nicht wahr. Ich weiß, an welchem Freitag in welcher Moschee für den Islamischen Staat geworben wird. Dort angelt man sich junge Menschen, die arbeitslos oder auf andere Art unzufrieden sind. Und das dürfen wir nicht zulassen.

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