Kobane erfüllt die Kurden mit Zorn

Todesopfer bei gewalttätigen Demonstrationen, doch Präsident Erdogan sorgt sich um ein mittelalterliches Denkmal

  • Jan Keetman
  • Lesedauer: 3 Min.
19 Tote haben die Proteste wegen Kobane in der Nacht zu Mittwoch in der Türkei gekostet, mehr als die Gezi-Unruhen in Wochen. Kobane hat nicht nur die Kluft zwischen den Kurden und der Türkei wieder schmerzlich aufgerissen.

Am Ende blieb der Regierung nur die Verhängung einer zweitägigen Ausgangssperre in zahlreichen Orten im kurdischen Südosten des Landes. Das letzte Mal hatte es dies vor 22 Jahren im März nach den Newroz-Unruhen gegeben, als 38 kurdische Demonstranten gestorben waren. Und noch etwas erinnert fatal an die Vergangenheit: das Eingreifen militanter Islamisten auf Seiten der Staatsmacht. Bilder zeigen bärtige Männer, die in der Kurdenmetropole Diyarbakir von einem Dach aus Steine auf Demonstranten schleudern. Einige der getöteten Demonstranten dürften von solchen Männern sogar erschossen worden sein.

In den 90ern war es die türkisch-kurdische Hizbullah, die Partei Gottes, die für den Staat die Schmutzarbeit bei der Bekämpfung der Arbeiterpartei Kurdistans und ihres Separatismus’ machte. Als sie in dieser Hinsicht mehr und mehr arbeitslos wurde, begann die Hizbullah, ideologische Gegner aus verschiedenen Lagern auf bestialische Weise zu ermorden. Vor einigen Jahren wurden ihre Anführer aufgrund eines Gesetzes zur Beschränkung der U-Haft aus dem Gefängnis entlassen.

Droht nun ein Bürgerkrieg in der Türkei? So weit wird es wohl kaum kommen, jedenfalls wenn man unter einem Bürgerkrieg Ereignisse wie in Syrien versteht. Doch die kurdische Bevölkerung muss wieder einmal erleben, dass sie nichts zählt. Angesichts der Lage in Kobane wirkt die Haltung der offiziellen Türkei wie Hohn. Während die Terrormiliz Islamischer Staat (IS) die Stadt Kobane stranguliert, sorgt sich Staatspräsident Recep Tayyip Erdogan um das in einer Enklave in Syrien liegende Mausoleum des Großvaters des Gründers der Osmanischen Dynastie. Und Ministerpräsident Ahmet Davutoglu sagte vor laufender Kamera: »Wir werden alles, was in unserer Macht steht, unternehmen, damit Kobane nicht fällt.« - Und sieht dann zu, wie das geschieht.

Die Kurden sind mit ihrem Frust diesmal aber nicht alleine. Die laizistische Türkei und die Aleviten erfüllt das als sehr warm wahrgenommene Verhältnis ihrer Regierungspartei zu den bärtigen Terroristen und ihren Sympathisanten in der Türkei mit Angst und Schrecken. Plötzlich finden viele kemalistische Türken, dass separatistische Kurden weniger schlimm sind als stramme Islamisten. So hat der Jugendverband der einst von Atatürk gegründeten Republikanischen Volkspartei (CHP) nicht nur eine Solidaritätserklärung für Kobane herausgegeben, sondern diese auch noch ins Kurdische übersetzt. Brennende Atatürk-Denkmäler im Osten des Landes dürften die CHP allerdings daran erinnern, dass sie und die Kurden doch nicht eine Bewegung sind.

Kobane hat nicht nur die Kluft zwischen den Kurden und der Türkei wieder schmerzlich aufgerissen, sondern auch den Graben zwischen der islamisch orientierten Regierungspartei Gerechtigkeit und Aufschwung (AKP) und den laizistisch orientierten Türken. Die linke Zeitung »Birgün« brachte die Ängste mit großen Balken auf ihrer Titeltseite zum Ausdruck: »In Kobane der IS, in der Türkei die AKP«.

Hat Erdogan sich verkalkuliert und Kobane unterschätzt? Oder meint er, mit seiner großen Anhängerschaft und treu ergebenen Medien auf seiner Seite könne er jeden Sturm durchstehen wie die Gezi-Proteste und die Korruptionsskandale? Jedenfalls ist kein Umdenken zu erkennen. Zugute kommt Erdogan, dass Kobane auch auf Barack Obamas Prioritätenliste nicht oben steht.

Von der EU heißt es, dass sie mit der Türkei enger im Kampf gegen IS und die Rückkehr von Syrien-Kämpfern zusammenarbeiten will. In einem am Mittwoch in Brüssel vorgelegten Fortschrittsbericht zu den EU-Beitrittsgesprächen mit Ankara wird zugleich das Vorgehen der türkischen Regierung im Zusammenhang mit Korruptionsermittlungen gegen Regierungsmitglieder kritisiert.

Nach all dem ist nicht zu erwarten, dass über Kobane groß verhandelt wird, wenn am Donnerstag eine US-Delegation Ankara besucht. Angesagt ist ein politisches Pokerspiel: Ankara will Washington zu einem Krieg gegen Syrien bewegen und sieht den IS als Randproblem. Für Washington ist es umgekehrt. Keiner kann seine Ziele ohne den anderen erreichen und hofft, dass dessen Leidensdruck größer ist.

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