Rausgeworfen trotz Duldung

»Sowas habe ich noch nie erlebt«: 100 Flüchtlinge auf einmal müssen Heime verlassen

  • Marlene Göring
  • Lesedauer: 4 Min.
Die Einzelfallprüfung sei abgeschlossen, behauptet die Ausländerbehörde. Aber unter den über 100 Flüchtlingen, die ihre Wohnheime verlassen müssen, sind auch solche mit offenen Verfahren.

Hassan* steht am Mittwochmorgen im Regen auf dem Oranienplatz. Eine Plastiktüte baumelt an seiner Hand. Darin hat er das Notwendigste: einen Schlafsack, eine Flasche Wasser, Papiere. Gerade ist er aus seiner Bleibe geflogen: dem Flüchtlingsheim in der Gürtelstraße. Dass er ausziehen muss, hat Hassan erst 15 Uhr tags zuvor erfahren. Mündlich, etwas Schriftliches gab es nicht. »Ich lebe seit acht Jahren in Deutschland. Aber sowas habe ich noch nie erlebt.«

Hassan ist einer der ersten, der an diesem Vormittag am Oranienplatz ankommt. Flüchtlingsaktivisten hatten dort zum Treffen gerufen. Keine 24 Stunden vorher hatten auch sie erst erfahren: Am Mittwoch wurden etwa 100 Geflüchtete obdachlos. Das Heim in der Gürtelstraße: 19 Menschen. Marienfelder Allee: 24 Menschen. Askanierring: 4 Menschen. Haarlemer Straße: 53 Menschen. Zu den offiziellen Zahlen des Landesamts für Gesundheit und Soziales (LAGeSo) kommen noch etwa 15, die laut Unterstützern aus dem Heim am Kaiserdamm ausziehen mussten.

Sie alle gehören zu den ehemaligen Oranienplatz-Besetzern. Ihnen wurde im Rahmen des »Einigungspapier Oranienplatz« eine Einzelfallprüfung und Unterstützung zugesichert. Für die Menschen ohne Papiere zahlt das Land entgegen der Vereinbarung nicht mehr weiter. Die Namen derer, deren Einzelfallprüfungen abgeschlossen ist, schickt die Ausländerbehörde nach eigenen Angaben an das LAGeSo. Anhand dieser Listen werden deren Plätze im Wohnheim gestrichen. Sie müssten zurück in die Bundesländer, wo sie ihren Asylantrag ursprünglich gestellt haben. Oder zurück in das Einreiseland, meistens Italien.

Aber unter den jetzt obdachlosen Flüchtlingen sind auch solche, deren Verfahren noch läuft und die eine Duldung haben. So wie Ibrahim. Aufgelöst steht er vor dem Wohnheim in der Haarlemer Straße. »Sollen sie mich abschieben, am besten sofort!« Lieber zurück nach Afrika als diese Unsicherheit. Abgeschoben werden aber kann er nicht, hat man ihm gesagt. Auch er hat noch ein ausstehendes Verfahren um einen Aufenthaltstitel bei der Berliner Ausländerbehörde.

Nicht alle wollten freiwillig ihre Zimmer räumen. Die Polizei verhaftete vorübergehend einen Flüchtling, setzte ihn aber wieder auf freien Fuß. In der Haarlemer Straße blieb die Lage laut Heimleiterin ruhig. Sieben der ursprünglich 53 Betroffenen haben eine Verlängerung erreicht. Etwa 15 sind freiwillig gegangen, andere können bis Ende der Woche bleiben. Ibrahim aber weiß nicht, wieso er trotz Duldungsbescheinigung auf der Liste derer steht, die ausziehen müssen.

Die Ausländerbehörde habe den Überblick verloren, vermutet Flüchtlingsaktivist Dirk Stegemann. »Wahrscheinlich stehen Leute doppelt auf den Listen«, versucht er sich zu erklären, wieso auch Flüchtlinge dabei sind, deren Status eigentlich ein Recht auf Unterbringung garantiert. Jedenfalls sei es sehr schwer, für 100 Menschen auf einmal Unterkunft und Rechtsbeistand zu organisieren. Bis zum Abend hatten sich 50 Flüchtlinge auf dem Oranienplatz gemeldet - sich aber nur acht Schlafplätze gefunden. Viele Unterstützer vermuten eine Strategie hinter dem geballten und kurzfristigen Rauswurf. Man könne so keine Aktionen vorbereiten. Und viele Flüchtlinge würden so kurz vor dem Winter abgeschreckt und es doch vorziehen, in andere Bundesländer oder nach Italien zurückzukehren.

Silvia Kostner vom LAGeSo kann das nicht bestätigen. »Die Hälfte hätte eigentlich schon letzte Woche ausziehen müssen«, erklärt sie. Man habe nur zwei Kalenderwochen zusammengelegt, um Aufwand zu sparen. Informiert wurden die Heime Ende letzter Woche, das sei ein normaler Zeitraum. Wann die Heime dann die Bewohner benachrichtigen, darauf habe man keinen Einfluss. Man wolle keine Menschen im Regen stehen lassen. Aber für die freigewordenen Plätze stünden schon die nächsten 100 Bewerber vor der Tür. »Wir sind gesetzlich verpflichtet, die unterzubringen, die hier her verteilt werden«, sagt Kostner. »Wir können nicht auch Flüchtlinge aus Sachsen und Baden-Württemberg versorgen.« Die Not bei der Suche nach einer Unterkunft für Flüchtlinge sei groß. Das LAGeSo will deshalb neben Containerdörfern auch Traglufthallen errichten, die erste schon Mitte November im Poststadion an der Lehrter Straße.

*Name von der Redaktion geändert

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