Vorschlag zur Güte

Die Debatte über den »Unrechtsstaat« ist nur zu beenden, wenn wir die Illusionen über den »Rechtsstaat« abschütteln

  • Stefan Ripplinger
  • Lesedauer: 6 Min.

Brüllt der Meisterdieb »Haltet den Dieb!«, ist das recht wunderlich. Zwar könnte ausnahmsweise auch ihm etwas gestohlen worden sein. Es könnte sogar gut sein, dass er der erste ist, dem ein Diebstahl auffällt. Immerhin ist er vom Fach. Und doch fragt sich: Woher nimmt er die Empörung? Was soll der Geifer? Wann hat er zuletzt seine Visage im Rasierspiegel betrachtet? Solches ging mir durch den Kopf, als einige Politiker und andere Meinungsführer die verflossene DDR einen »Unrechtsstaat« genannt haben.

Dass in der DDR manchen, vielleicht vielen übel mitgespielt worden ist, sei nicht bestritten. Aber lässt sich über die DDR sprechen, wenn nicht auch über die BRD gesprochen wird? Die BRD sollte und soll bekanntlich ein »Rechtsstaat« sein. Es scheint Leute zu geben, die es für ihre Aufgabe halten, den Rechtsstaat zu schützen und zu fördern. Hoffentlich kriegen sie auch etwas dafür.

Geschenkt, dass mit dem bloßen Titel »Rechtsstaat« allein nichts gewonnen sein kann. Es gibt einen Rechtsstaat, in dem Menschen, auch noch auf stümperhafte Weise, hingerichtet werden, in diesem und in anderen Rechtsstaaten wird gefoltert, in wieder andern, so bei uns, werden Flüchtlinge von ihren Aufsehern gedemütigt, und kaum zu zählen sind die noblen Rechtsstaaten, in denen Sinti und Roma, Behinderte, Außenseiter behandelt werden wie Vieh. Diese zum Himmel schreienden Fälle von Misshandlung überlasse ich Menschenrechtlern, die eine wichtige Arbeit tun, indem sie sie namhaft machen.

Doch ist es weder nötig, Verbrechen zu zählen noch sie abzuwiegen. Wir müssen also nicht Unrechtsstaat hier und Rechtsstaat da mit den historischen Begebenheiten des Ostens oder Westens abgleichen. Die Begriffe genügen schon. Und diese beiden Begriffe, »Unrechtsstaat« und »Rechtsstaat«, taugen beide nicht viel. Übrigens sind das bloß zwei Ansichten derselben Sache.

»Unrechtsstaat« ist fast ein Pleonasmus. Denn es muss einer nicht Thomas Hobbes gelesen haben, um zu wissen, dass sich Staaten in der Gewalt gründen und dann Gewalt ausüben, die sie »Recht« nennen. Dass dieses Recht von außen oder von unten wie Unrecht aussieht, sollte deshalb nicht überraschen. Also ist für seine Nutznießer ein »Rechtsstaat«, was für seine Opfer und für Dritte ein »Unrechtsstaat« sein kann.

Mit dem Wort »Unrechtsstaat« lässt sich immerhin Politik treiben. Damit meine ich nicht nur die Politiker und Historiker, die über die DDR ein abschließendes Urteil gefällt haben. Damit meine ich auch die Unterdrückten aus aller Herren Länder, die diesen Herren »Unrechtsstaat!« ins Gesicht schreien können. Möge es nützen.

Dennoch bleibt bestehen, dass sich mit einem Staat vielleicht positives Recht, aber bestimmt nicht Menschenrecht erreichen lässt. Das wäre nur da möglich, wo der Staat aufgehoben wäre - auf gute Weise und nicht so, wie die Liberalen sich das denken.

»Utopisch!« höre ich da. Ja, ja, gewiss. Aber Utopien befreien uns doch, wenigstens vorübergehend, von der üblichen Faktenhuberei. Die Faktenhuber oder Positivisten sagen, dass dieser und jener Rechtsgelehrte den »Rechtsstaat« makellos begründet hätte. Die Utopie fragt uns dagegen ganz schlicht: Willst du in dieser Welt leben, ja oder nein? Was ist dir lieber, dein Recht oder dein Glück?

Wer, so sensibilisiert, den Begriff noch einmal anschaut, der wundert sich, wie je einer auf ihn hereinfallen konnte. Proleten haben dabei einen klaren Vorteil vor Politologen. »Rechtsstaat« ist ein Wort, das speziell dafür erfunden worden ist, denen, die bei uns ausgepresst und herumgestoßen und vernachlässigt werden, einzureden, das sei alles in Ordnung, weil es ja gesetzmäßig ist. Das kann aber nicht in Ordnung sein.

Der Begriff »Rechtsstaat« ist faul, und zwar nicht etwa deshalb, weil es noch nie Rechtsstaaten gegeben hat, die ihrem eigenen Anspruch gerecht geworden sind. Sondern deshalb, weil es gar nicht möglich ist, diesem Anspruch gerecht zu werden. Nicht nur schließen sich Staat und Recht gegenseitig aus, solange wir unter »Recht« etwas anderes als bloß das positive Recht verstehen wollen. Es ist auch nicht möglich, Rechtsfälle unparteiisch zu entscheiden, wenn nicht zuvor gleiche Verhältnisse geschaffen worden sind. Es kann einer nicht gleichzeitig die Ungleichheit und die Gleichheit schützen. Wer sich für das Eigentum einsetzt, kann sich nicht auch für die Enteigneten einsetzen.

Damit wir uns nicht in Abstraktionen verlieren, sei an ein konkretes Urteil der letzten Zeit erinnert. Es heißt darin, allerdings recht abstrakt, das »Bundesverfassungsgericht - Erster Senat - unter Mitwirkung der Richterinnen und Richter Vizepräsident Kirchhof, Gaier, Eichberger, Schluckebier, Masing, Paulus, Baer, Britz« habe »am 23. Juli 2014 beschlossen: § 20 Absatz 2 Satz 1 und 2 Nummer 1, Absatz 4, Absatz 5, § 23 Nummer 1, § 77 Absatz 4 Nummer 1 und 2 Sozialgesetzbuch Zweites Buch, jeweils in der Fassung von Artikel 2 des Gesetzes zur Ermittlung von Regelbedarfen und zur Änderung des Zweiten und Zwölften Buches Sozialgesetzbuch vom 24. März 2011 (Bundesgesetzblatt I Seite 453), und § 8 Absatz 1 Nummer 1, 2, 4 und 6 ...« - ich erspare uns nun exakt 17 Zeilen - »... sind nach Maßgabe der Gründe mit Artikel 1 Absatz 1 des Grundgesetzes in Verbindung mit dem Sozialstaatsprinzip des Artikels 20 Absatz 1 des Grundgesetzes vereinbar.« Das soll heißen, dass die Hartz-IV-Leistungen »die Anforderungen des Grundgesetzes, tatsächlich für eine menschenwürdige Existenz Sorge zu tragen, im Ergebnis nicht« verfehlen.

Beschlossen und verkündet von Prof. Dr. Ferdinand Kirchhof, der, als er das Urteil fällte, rund 15 000 Euro im Monat (Grundgehalt B 11 plus »Dienstaufwandsentschädigung«) verdient hat, und verhängt über Menschen, die mit monatlich 391 Euro sowie Mietkostenzuschuss und hin und wieder geringen Zusatzleistungen auskommen müssen. In diesem Urteil behauptet ein Besitzender, bei uns könnte auch ein Besitzloser Mensch sein. Das ist leicht gesagt, auch wenn er es so umständlich wie möglich formulierte. Denn wie kommt er dazu? Wäre er nicht der Letzte, der das beurteilen könnte? Und wie könnte ein Gesetz die Menschenwürde definieren, das zugleich (Grundgesetz, § 14,1) festlegt: »Das Eigentum und das Erbrecht werden gewährleistet«? Das kann es nicht und das wird es niemals können.

Dieser Paragraph ist es nicht nur, der alle Urteile, auch das des Bundesverfassungsgerichts, bestimmt. Dieser Paragraph bestimmt auch unser aller Leben. Wenn der Chef uns schikaniert oder uns das Weihnachtsgeld gekürzt wird, »um das Überleben des Gesamtunternehmens zu sichern«, oder wenn sich unsere Miete mir nichts, dir nichts binnen kurzem fast verdoppelt und wir nicht mehr wissen, wie wir überleben sollen, und uns dann auch noch die von Prof. Kirchhof abgesegneten 391 Euro höhnisch entgegengrinsen, dann ist das alles »Gewährleistung des Eigentums«. Kein Gericht des Landes hilft uns in diesen Fällen, im Gegenteil, es hilft jeweils denen, die uns das Leben zur Hölle machen.

Zwar heißt es im zweiten Absatz des genannten Paragraphen: »Eigentum verpflichtet.« Aber dieser Absatz wird grundsätzlich nicht angewandt. Den Grund dafür kannte schon Ernst Bloch, als er schrieb, dass das »positive Gesetz Handlangerdienst ist; Schutz des Privateigentums ist sein Auftrag, genauer: Schutz des Privateigentums an den Produktionsmitteln«. Er zitiert Rosa Luxemburg: »Keine Demokratie ohne Sozialismus, kein Sozialismus ohne Demokratie.«

Damit sprach Luxemburg ein korrektes Urteil über die DDR und über die BRD und kriegte dabei doch weder B 11 noch Dienstaufwandsentschädigung. Was nun den »Unrechtsstaat« betrifft, ist die Debatte über diesen Begriff und seine Anwendung leicht zu beenden. Gestatten wir doch allen, das Wort auf die DDR anzuwenden, die es auch auf die BRD anwenden.

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