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Alles Werden und Vergehen

Lukrez schrieb über die Natur der Dinge in schönen Versen

  • Harald Loch
  • Lesedauer: 4 Min.

»Der Tod geht uns nichts an.« Mit diesem Wort provozierte vor mehr als zweitausend Jahren Lukrez seine römischen Zeitgenossen. Er hatte in seinem philosophischen Lehrgedicht »De rerum natura« die Gedanken seines griechischen Vorbildes Epikur zu einer materialistischen Weltsicht weiterentwickelt, in der weder Gott noch Götter Platz haben, in der es keine unsterbliche Seele gibt und in der die Materie aus kleinsten Partikeln, »Urelementen«, zusammengesetzt ist. Diese Einsichten hatte er auf der Grundlage von Sinneseindrücken gewonnen.


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* Lukrez: Über die Natur der Dinge. Hg. v. Klaus Binder. Mit einer Einführung von Stephen Greenblatt.
Galiani. 406 S., geb., 39,99 €.


Waren seine Erkenntnisse seiner römischen Zeit weit voraus, blieben sie es während des christlichen Mittelalters erst recht. Friedrich Nietzsche brachte es auf den Punkt: »Epikurs Triumph, der am schönsten im Mund des Lukretius ausklingt, kam zu früh« - das Christentum kam dazwischen. Nur wenige Abschriften des in 7409 Hexametern verfassten epischen Gedichts hatten die Antike überlebt. Eine davon entdeckt ein italienischer Intellektueller am Rande des Konstanzer Konzils (1414-1418) in einer deutschen Klosterbibliothek und kopiert sie. 1473 erscheint in Brescia die erste gedruckte Ausgabe.

Stephen Greenblatt lässt in seinem kulturgeschichtlichen Bestseller »Die Wende« die Renaissance mit der Wiederentdeckung von Lukrez beginnen. Er hat auch eine Einführung in die als Prachtband soeben erschienene neue Übersetzung von Klaus Binder verfasst, der versucht, die Schönheit der Verse des lateinischen Originals in rhythmische Prosa für deutsche Leser zu übertragen. Binder löst das seit Homer »ewige« Übersetzungsproblem mehr als respektabel und hilft mit einem umfangreichen Stellenkommentar, manchen beim Übertragen nicht zu rettenden Doppelsinn aufzulösen. Wenn Lukrez die Zusammensetzung der Materie aus »elementa« plausibel mit einer Analogie zur Sprache erklärt, deren Worte und Sätze aus einzelnen Buchstaben bestehen, dann erläutert der Kommentar, dass »elementa« im Lateinischen eben beides bedeutet: Elemente wie Buchstaben.

Die Schrift »De rerum natura« wurde in römischer Zeit nur von einigen unabhängigen Geistern wie Cicero oder Vergil geschätzt. Lukrez war ein lateinischer Ketzer und blieb es - bis zu seiner Wiederentdeckung. Niccolò Machiavelli kopiert »De rerum natura«, verwendet einige Gedanken der Schrift, zitiert Lukrez aber aus Vorsicht nie. Michel de Montaigne kennt und verwendet die Ideen des Lukrez in seinen »Essais«, Giordano Bruno und Galileo Galilei werden verbrannt, weil sie von Lukrez formulierte materialistische Thesen vertreten. Molière fertigt eine - verlorengegangene - Übersetzung an, Goethe regt eine ins Deutsche an, Wilhelm von Humboldt verfasst eine. Thomas Jefferson bezeichnet die Lehre des Lukrez, vor allem sein »Ich fühle, also bin ich«, als sein Lebenselexier.

Was hat der im Jahre 55 v. u. Z. gestorbene Lukrez Weltbewegendes geschrieben, dass selbst sein 15 Jahrhunderte währendes Verschweigen Teil seiner erstaunlichen Rezeptionsgeschichte geworden ist? Das in sechs Bücher gegliederte Werk ist symmetrisch angelegt. In der Mitte stehen die Abhandlungen zur menschlichen Natur, den Anfang und das Ende bilden die erstaunlich »modern« klingenden Teile über den Mikro- bzw. über den Makrokosmos. Die Materie bestehe aus »Atomen und Leere und sonst nichts«. Sie sei aus keinem Schöpfungsakt entstanden, gehe nicht verloren, ihre Partikel seien ständig in Bewegung und setzten sich fortlaufend neu zusammen. Lukrez misst den »Urelementen« gleichbleibende wie veränderliche Eigenschaften zu und erkennt, dass aus empfindungslosen Atomen lebendige Wesen werden. Götter hätten mit alledem nichts zu tun, es sei die »Natur der Dinge«, die alles Werden und Vergehen bestimme.

In den beiden Büchern über den Menschen, seinen Geist und die Seele räumt er mit allen Vorstellungen von einem Leben nach dem Tode auf. Geist und Seele seien nicht unsterblich. Lukrez war sich bewusst, dass er gegen die damalige sprituelle »correctness« verstieß. Deshalb griff er zu einem Trick: Er schrieb seine materialistische Quintessenz, »um die Seele aus den bindenden Fesseln des Aberglaubens (religio) zu lösen«, in schönen Versen: »Darum mein Wunsch, dir meine Gedanken in wohlklingendem Gesang nahezubringen, gleichsam versüßt mit dem Honig der Musen.«

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