Lustig in die Welt hinein

Kärgels »Winterreise«

  • Martin Hatzius
  • Lesedauer: 3 Min.

Ob der romantische Dichter Wilhelm Müller (1794-1827) von Franz Schuberts Vertonung seiner Gedichte erfahren hat, ist ungewiss. Schubert komponierte seine Klavierlieder zu den 24 von Müller verfassten Texten in dessen Todesjahr. Ganz gewiss konnte Müller nichts davon ahnen, dass seine Sammlung von »Wanderliedern« dank Schuberts Melodien und Klaviersätzen fortan in höchste Höhen führte, was ihre Popularität betrifft. Vielleicht ist die »Winterreise« - einige Stücke, allen voran »Der Lindenbaum«, verwandelten sich geradezu in Volkslieder - bis heute der bekannteste deutsche Liederzyklus überhaupt, nach wie vor allgegenwärtig auf Konzertbühnen, im Klavier- und Gesangsunterricht, in gutbürgerlichen Wohnstuben und in zahlreichen Einspielungen.

So eine Aufnahme, wie sie nun der experimentierfreudige Gitarrist Ponce Kärgel und der unbeirrbar marktunkonforme Liedermacher Manfred Maurenbrecher veröffentlicht haben, hat die Welt aber bestimmt noch nicht gehört. Wer die »Winterreise« knapp 200 Jahre nach ihrem Anbruch für lahmend hielt, für vorgestrig, bieder und hundertfach über ihr Ziel hinausgekreist, dem führen diese beiden etwas anderes vor.

Es mag sein, dass manche Konzerthausabonnenten von dieser zuweilen recht schrägen Interpretation ähnlich entsetzt sind, wie es Mitsingpatrioten 1969 waren, als Jimi Hendrix in Woodstock die Nationalhymne der USA in einem gitarrenkreischenden Bombenhagel versenkte. Tatsächlich aber handelt es sich weder in diesem noch in jenem Fall um die Verhohnepipelung eines Heiligtums, sondern um wagemutige Formen der Aneignung. Es ist deshalb auch kein Makel, dass Maurenbrecher die Zischlaute so lispelt, wie ihm der Schnabel nun mal gewachsen ist, und es ist auch kein Versehen, dass Kärgel nicht jeden Ton perfekt auf den Punkt spielt. Nein, das Unperfekte ist hier Programm.

Kärgel und Maurenbrecher, die beide kundtun, wie nahe ihnen Schuberts »Winterreise« schon seit Jahrzehnten ist, haben sie dahin geholt, wo sie sich selbst zu Hause fühlen - und dahin, wohin sie in einer Zeit gehört, in der vereinsamte Seelen nicht mehr allein auf Wanderwegen wandeln, sondern andere Verkehrswege benutzen -, nämlich »auf unsere heutigen Straßen« (Maurenbrecher). Müller wusste wahrscheinlich nicht, was Schubert aus seinen Texten gemacht hat, und Schubert kann, da er tot ist, nicht hören, wie seine Lieder in Kärgels E-Gitarren-Arrangements klingen. Wahrscheinlich hätte es ihm gefallen. Bestimmt hätte er geschmunzelt.

»Fremd bin ich eingezogen, fremd zieh ich wieder aus« - die romantische Verzweiflung verschwindet in Kärgels Bearbeitung zwar nicht gänzlich, aber sie weicht doch - auch dank Maurenbrechers raubeiniger Vagabundenstimme - einem fröhlichen Bekenntnis zum Getriebensein. Nicht umsonst geht der CD-Titel »Klagen ist für Toren« auf den Wilhelm-Müller-Text »Mut« zurück: »Fliegt der Schnee mir ins Gesicht,/ Schüttl’ ich ihn herunter./ Wenn mein Herz im Busen spricht,/ Sing’ ich hell und munter.// Höre nicht, was es mir sagt,/ Habe keine Ohren;/ Fühle nicht, was es mir klagt,/ Klagen ist für Toren.// Lustig in die Welt hinein/ Gegen Wind und Wetter !/ Will kein Gott auf Erden sein,/ Sind wir selber Götter !«

Ponce Kärgel, Manfred Maurenbrecher: Klagen ist für Toren ... eine Winterreise (Reptiphon)

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