Afghanistan ist Absurdistan ist überall

»Die lächerliche Finsternis« von Wolfgang Lotz an den DT-Kammerspielen

  • Hans-Dieter Schütt
  • Lesedauer: 5 Min.

Durch die tropischen Wälder Afghanistans geht es mit dem Boot den Hindukusch hinauf. Der Hindukusch sei ein Gebirge? Nein, man darf nicht alles glauben, was im Fernsehen läuft. Das Fernsehen lügt. Alles lügt. Jedes Bild, jeder Leitartikel, jede Reportage, jeder Mensch, jede Idee, jedes Pathos, jede Vernunft, jeder Anschein, jede Parteilichkeit, jede Moral. Afghanistan ist Absurdistan. Ist überall. Denn überall ist Wahrheit eine Lüge, ein Anlass zum Irrewerden. Oberst Pellner und Unteroffizier Dorsch, Bundeswehr, fahren ins weitest Entlegene, um einen deutschen Offizier zu erledigen, der im Wahn zwei Kameraden tötete. Conrads »Herz der Finsternis«, Coppolas »Apokalpyse Now« - nun also Wolfgang Lotz. »Die lächerliche Finsternis« heißt sein Stück, von Daniela Löffner an den Kammerspielen des Deutschen Theaters inszeniert.

Ein Stationen-Stück. Europäer treffen Fremde: der Katastrophenstoff. Da ist der Pirat, der sich an jenen rächen will, die ihm alle Fische, ja sogar alles Meerwasser raubten. Da ist der italienische Blauhelmoffizier, den Eingeborene in Zorn versetzen, weil sie eine Zigarettenkippe ins Gras warfen. Da ist der Missionar, der muslimische Frauen mit Freiheitsgedanken bekehrt, die Christentum sagen, aber Fleischgeilheit meinen. Und, und, und ... Es irrt der konfuse, kriegerische Westler durch die Globalisierung. Globalisierung ist Grenzenlosigkeit, ist also die Chance, dass alle einander berühren. Berührung ist Liebe, Berührung ist aber auch Tod, der heißt Ansteckung. Weltoffenheit ist Ansteckung geworden: mit Krieg, Krieg und noch mal Krieg, mit Gier, mit Armut, mit Krankheiten, mit Kälte, mit Misstrauen, und immer wieder mit Angst. Platzangst, der treue Begleiter der Reisefreiheit. Jeder dem Anderen eine Krüppel-Konkurrenz: Wer ist verbogener und infolgedessen verwatteter in Selbsttäuschung?

Wolfgang Lotz’ Poesie ist verblüffend unbekümmert: Man kann eine tropische Frucht aufbrechen und in deren Schale die Orte der Kindheit sehen; man kann in Mogadischu Piraterie an der Hochschule studieren (finanziert vom Islamistischen Studienwerk!); man kann vor einem Hohen Gericht Beweisstücke seiner Herkunft vorzeigen; eine Wohnungstür, eine belebte Straße. Das Wirkliche und das Fabulierte stürzen zartest, tänzerisch ineinander. Die Aufführung hat Witz. Sie schürt Spannung. Sie ist ein wirklich anschauliches Spiel. Sie besorgt sich gewissermaßen alle Lizenzen zwischen Märchen und Algebra, beherrscht Laune wie Logik. Ihre Ladenglocken heißen Groteske und Augenzwinkern.

Die Aufführung hat eine Plattform als Boot, und eine gigantische Landschaft aus weißer Folie bildet Dschungel und Eingesperrtsein und wüst-fremdes Terrain (Bühne: Claudia Kalinski). Die Aufführung isst Unmengen von Bananen, sie hat Mineralwasserflaschen für tropische Schweißflecken engagiert. Sie macht ganz schön Theater, etwa wenn der italienische Blauhelmer die heißen gefüllten Espressotassen aus der Hosentasche fingert. Die Aufführung liebt Deutlichkeit, sie lebt Direktheit, und sie gibt ihrem Affen Zucker, indem Alexander Khuon Pizzastückchen ins Publikum wirft.

Khuon gibt seinen durchlederten Offizier mit dem stiefelfesten Charme aus Roh- und Frohnatur - es gibt ja Menschen, die werden erst mit entsicherter Bewaffnung entwaffnend sicher. Ihn stärkt das Gefühl, mit Zynismus menschennäher zu sein als jede Liebe. Khuon grinst sich eine Leere ins Gesicht, bis das gleichsam zum Steckbrief wird: Ein Ich verloren - es wird aber dringend gebeten, auf eine Rückgabe zu verzichten!

Moritz Grove ist der untergebene Soldat, der weich und wirr und weh und wund durch seine ostdeutsche Prekariatsverklemmtheit huscht. Seine Blässe zeigt, wie sehr da ein Körper den Zustand der Seele verstanden hat. Kathleen Morgeneyer füllt alle anderen Rollen, sechs an der Zahl, ein kleiner Wirbelwind der Verwandlungen, die bewusst auf einen dilettantischen Anhauch setzen - ein Gegenpolspaß aus stimmhoher Kindlichkeit und rüdem Männertum, zwischen mädchenhafter Zierlichkeit und clownesker Maskerade. Ja, die Aufführung hat Charakter: Sie geht los und kommt an. Sie beantwortet Rhythmusfragen, ohne dass man sie stellen muss. Sie nimmt sich das Recht, über die Betonung zu entscheiden. Ihr gutes Recht. Die lächerliche Finsternis? Die lächerliche Finsternis.

So geschieht es, dass man die Inszenierung sieht und zugleich durch sie hindurch. Als sei da noch etwas anderes. Vielleicht weniger imitatorische Fingerfertigkeit. Es ist, als blicke der Geist des Autors zu uns, und er erscheint als Schüchterner wie auch Wilder, der eine treibende Angst vor den erschöpfbaren Bildern von Wirklichkeit hat, eine bebende Furcht vor allem, was zu einem stabilen Urteil führen kann. Als sei der Natur des hilflosen, räuberischen Menschen nur in der Unnatur des Theaters beizukommen. Die aber muss ihre Unnatur offen zeigen, darf nicht Widerspiegelung von Realität sein. Wir erkennen unsere Lage doch weniger durch deren pure Nachzeichnung, als vielmehr durch die Heftigkeit, in der wir uns von ihr abwenden. Deswegen sehen vielleicht Hartz-IV-Empfänger lieber die Helene-Fischer-Show als ein Arbeitslosendrama - keine Bewusstseinsmahnung bringt sie davon ab, und dies ist durchaus ein Zeichen von Souveränität der Wirklichkeit gegenüber: Wo Erlösung nicht in Sicht ist, kann eine Loslösung vom Alltag eine Lösung fürs Leben sein. Jedenfalls für die Dauer einer Show.

Und so könnte auch dieses Stück wohl noch weit weniger wirklich wirken. Dämonischer, vertrackter, absurder? Weit radikaler, lakonisch härter? Eine Flussfahrt als Teufelskreisverkehr. Menschen? Gespenstisch anmutende Organismen, die eine grausame, erbarmungswürdige, unbarmherzige Orgie der Verstörtheit leben (leben?) müssen. Als habe ein Gott seinen achten Schöpfungstag, ein Tag für böse Experimente mit Marionetten der Haltlosigkeit.

Das alles wäre - hieße die Inszenierung: Die lächerliche Finsternis. Eine Frage der Betonung. Auch wer zuschaut, hat die freie Wahl. Aber stopp! Der Kritiker hat nicht das Talent zu schöpfen. Er schöpft ab. Er kann nicht selber kochen. Er hält nur den Teller hin. Hunger ist kein Talent. Die Auskunft, ob’s einem schmeckt, auch nicht. Aber diese Auskunft sättigt den Kritiker. Sein Me- tier: Geschmackssache, mehr nicht. Gegessen wird, was auf die Bühne kommt. Für meinen Geschmack also ist die sehenswerte Inszenierung von Daniela Löffner raffiniert. Sie lässt denken, sie unterschätze den Autor. Das führt zu Steigerungsfantasien und also zur Gefahr, Lotz’ Stück zu überschätzen. Was denn nun? So bleibt der Abend, über sich selbst hinaus, spannend.

Nächste Vorstellungen: 3., 10. Januar

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