Klein, aber Oskar

»Die Blechtrommel« nach Günter Grass am Schauspiel Frankfurt am Main

  • Hans-Dieter Schütt
  • Lesedauer: 5 Min.

Das kann er. Steht sozusagen mitten im dichtesten Regenwald, nur ein Schnitzmesser in der Hand - aber schon ist der dickste Baum eine kleine handliche Holzspielfigur. Das kann er wirklich. Bearbeiten, verdichten. Stoffübertragung. Eine Meisterschaft, gewachsen in erfolgreichen Dramaturgenjahren: Oliver Reese. Der Intendant des Frankfurter Schauspiels hat nun »Die Blechtrommel« von Günter Grass auf die Bühne gebracht und selber inszeniert: als Monolog für den Schauspieler Nico Holonics (Bühne: Daniel Wollenzin).

Romane auf dem Theater sind Notbehelfe - schon gar dann, wenn die Mühe überdeutlich wird, alle unvermeidlichen Beschädigungen des Werkes zu kaschieren. Das geschieht hier nicht, der Roman zeigt gleichsam offen seine Behindertenausweis, ehe er von Szene zu Szene springt. Und auf des Messers Schneide tanzt, also auf dem Grat zwischen Kopie und freier Fabel, zwischen denen, die das Buch wiedererkennen wollen, und jenen, die es auf diese Weise kennenlernen möchten. Langweiliger Konflikt, ein Streit für Seminaristenseelen. Erst mal hinschauen. Erst mal hinnehmen, was den Eindruck machen könnte, man müsse es aus theaterästhetischen Gründen kräftig hernehmen.

Hinschauen ist ein Erlebnis. Nico Holonics erzählt die Geschichte des kleinen Oskar, der sich weigert, zu wachsen, der Glas zersingen kann und der für seine irre unwirkliche Existenz die Blechtrommel braucht. Es ist, als bohre sich Holonics so langsam wie lustvoll ins Innere des längst weltberühmten Erzählraums, er kriecht in Worte, um Leib zu werden - Oskars Leib, aber auch Leib des dämonischen Zirkusgnoms Bebra, der in der Nazitruppen-Betreuung endet; Leib der Oskar-Mutter und ihrer zwei Lebensgefährten; Leib der Marie, in deren »schwarzes Dreieck« sich Oskar gräbt; Leib des jüdischen Spielzeughändlers Sigismund Markus, der Opfer der Reichspogromnacht wird; Leib gewissermaßen jener Ekelszene, da glitschig grüne Aale aus dem Kadaver eines Pferdes gezogen werden. Oskar mit Augen, die ins Ungewisse entfliehen. Mit dieser auch so furchterregenden Frühweisheit. Mit dieser tiefdunklen Doppelsinnigkeit des Denkens. Mit dieser grell närrischen Aufgekratztheit. Mit dieser kindlich-garstigen Kälte auch.

Es ist ein grandios dynamisches, dann wieder wehmütig leises Solo aus kabarettistisch galliger Distanz, zutiefst gefühlter Innerlichkeit und charmantester Clownerie. Frappierend, wie dieser Oskar immer wieder seine vierundneunzig Zentimeter Körpergröße ins Feld führt und Holonics, der weit Größere, wahrlich immer kleiner zu werden scheint; faszinierend, wie dieser Schauspieler, ganz oskargemäß, die Welt spielend zerscherbt, dann nimmt er die einzelnen Scherben in die Hand, hält sie triumphierend, traurig, trunken, taumelnd, täppisch, tolldreist, traumbesoffen, traumanüchtern, tobend, trällernd hoch und staunt mit einer großen Kindlichkeit über jeden episodischen Romansplitter. Wie über etwas eben erst Erfundenes. Und in jedem Spiel-Scherben funkelt grausame Zeit, schreckliche Gegenwart. Das Immerdar jener Naivität, die nicht durchzuhalten ist, die irgendwann und absehbar geschreddert wird von Erziehung, Moral, Sitte, Kultur.

Denn: Irgendwann beginnt Oskar zu wachsen. Das ist das Ende. Und das spielt Holonics mit einem Gesicht, das Kapitulation flaggt. Gewachsen zu sein, erwachsen zu werden, so kündigt es dieses nunmehr elend besiegte Gesicht an - das wird eines Tages bedeuten, dass der Mensch nicht mehr gewachsen sein wird, nämlich dem Ansturm der Anpassungs- und Wendezwänge. Will man Mitesser bleiben, muss man den Mitläufern beitreten, auch sie sind Kämpfer: Keiner kämpft so entschlossen wie sie für eine Gesellschaft, in der sich die Willfährigen Demokraten nennen dürfen. Ein resigniertes Schulterzucken ist das letzte Signal, das dieser Oskar aussendet. Das ist die Geschichte hinter der Geschichte.

Grass’ Roman als Deutschen-Panorama mit Anschluss ans Heute. Sage doch keiner, man könne den Satz »Wir sind das Volk!« unters Reinheitsgebot stellen. Sage doch keiner, man könne demokratische und antidemokratische Bewegungen säuberlich trennen. »Wessen Straße ist die Straße?« Klassenkampf-Lyrik. Immer ist die Straße der Ort aller, so, wie der abwartende Platz hinter der Gardine auch der Platz aller ist. Arbeiter: führende Klasse, die von Bananen träumte; der SED hörig und die SED davonjagend, sehr wohl geht das zusammen; erst ND-Leser, dann BILD-Leser, jetzt vielleicht beides. Man kann die Mitte nicht feiern wollen, ohne die verflucht dreckigen Ränder aushalten zu können. Dieser Symmetrie-Gedanke ist nicht Frevel, sondern Logik. Alles Reaktionäre bleibt (ebenso wie alles Revolutionäre) ein Beiprogramm der Demokratie-Geschichte. Oskar sieht, dass alle Halunken sind und auch wieder nicht, und das Gute entsteht am allerwenigsten aus Vorsatz. Und das Böse hat ebenfalls Gesichter, die sehr freundlich sein können. Alle sind Wir, und wir sind das Volk, und ein Sieg darf genannt werden, wenn daraus wieder Bevölkerung wird. Grass erzählt das als Geschichte, die keinen Schluss-Strich kennt. Und immer fällt vieles in Scherben, und das kommt nicht vom Singen.

Das Kaschubische, die Heil-Hitler-Brüllkulisse, das ganze Duckmäuserische und Plustergeile einer so behäbigen wie brüchigen Provinzwelt - Nico Holonics holt es wuchtig, witzig, wuselnd in seinen über zweistündigen monologischen Temporitt. In übergroßer Latzhose, auf einem übergroßen Stuhl sitzend, herumstampfend auf einem geradezu staubprustenden Braunackerboden, und immer wieder in Blechtrommeln hineintretend wie in Fettnäpfe. Flink und flausig lässt er das Publikum vom Brausepulver kosten (»erst den Finger nassmachen«), das er aus Maries Bauchnabel schlürfen wird, ehe er sich anderen Körpertiefen des Kindermädchens zuwendet. Am Ende kommt eine Ahnung davon auf, dass diese Oskar-Erfindung von Grass tatsächlich eine Jahrhundert-Erfindung bleibt. Mehr als eine Ahnung: Der Monolog ist unter den vielen Arten, lebendiges Theater zu spielen, durchaus eine Königsdisziplin. Und Nico Holonics ist wahrlich, ja: königlich.

Nächste Vorstellungen: 18, 29. Januar

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