Nach der Wahl ist vor dem Krieg

Die Terrorgruppe Boko Haram wütet vor dem Urnengang in Nigeria Mitte Februar

  • Martin Ling
  • Lesedauer: 3 Min.
Viel spricht dafür, dass der Angriff von Boko Haram auf die Stadt Baga vor wenigen Tagen der bisher folgenschwerste war. Sicher ist, dass die Auseinandersetzung mit der Armee noch nicht zu Ende ist.

Nigerias Exekutive macht das, was sie in Sachen der Terrorsekte Boko Haram fast immer macht: die Dimension beschönigen. Auf 150 Tote beziffert die nigerianische Armee die Opferzahl des Angriffs von Boko Haram auf die Stadt Baga vergangene Woche. Die Menschenrechtsorganisation Amnesty International spricht davon, dass mehrere hundert Menschen ermordet worden seien und sich die Terrorislamisten schwerer Verbrechen schuldig gemacht hätten.

Die Organisation sprach von der »größten und zerstörerischsten Attacke«, die Boko Haram je ausgeführt habe. Die vorsätzlichen Tötungen von Zivilisten und die Zerstörung ihres Eigentums seien »Kriegsverbrechen und Verbrechen gegen die Menschheit und verlangen eine Untersuchung«, erklärte Amnesty. Boko Haram will in Teilen des Landes ein Kalifat errichten. Der Angriff vom Januar galt offenbar zivilen Selbstverteidigungsmilizen, die das Militär im Kampf gegen die Gruppe unterstützen.

Amnesty International veröffentlichte mehrere Zeugenaussagen, die das brutale Vorgehen der Kämpfer dokumentierten. Ein Bewohner berichtete, dass eine Schwangere erschossen wurde, als sie gerade ihr Kind zur Welt brachte. »Das Baby, ein Junge, war schon halb geboren«, sagte er, »in dieser Position ist sie gestorben«. Auch seien viele Kinder von den Kämpfern getötet worden.

Ein etwa 50-jähriger Zeuge erzählte, er habe allein in Baga hundert Tote gesehen. »Ich bin in den Busch gerannt«, erzählte er. »Und während wir rannten, haben sie weiter geschossen und gemordet.« Ein anderer Bewohner versteckte sich erst drei Tage lang, dann floh er fünf Kilometer durch den Busch. Überall hätten Leichen gelegen, sagte er. Die Namen der Zeugen nannte Amnesty nicht.

Zu den Toten gibt es bislang keine bestätigten Angaben, Beobachter gehen davon aus, dass die wahre Opferzahl wohl nie ermittelt wird, da Baga abgeschottet ist und unter der Kontrolle der Extremisten steht.

Boko Haram kämpft seit rund sechs Jahren für die Errichtung eines Gottesstaats im mehrheitlich muslimischen Norden des Landes. Baga liegt im nordöstlichen Bundesstaat Borno.

Mitte Februar finden in dem Land zudem Parlaments- und Präsidentschaftswahlen statt. Die neue Welle der Gewalt gilt auch als Versuch, diese Wahlen zu gefährden. Sie wird sich mit Sicherheit nicht positiv auf die Wahlaussichten des Amtsinhabers Goodluck Jonathan auswirken, eines Christen aus dem südöstlichen Nigerdelta.

Nigeria ist ein ethnisch und religiös zutiefst zerklüfteter Riesenstaat mit 170 Millionen Einwohnern. Während im wirtschaftsstarken Süden rund um die Wirtschaftsmetropole Lagos Christen und Animisten in der Überzahl sind, ist der Norden deutlich ärmer und überwiegend von Muslimen bewohnt. Um diesen gesellschaftlichen Sprengstoff politisch auszutarieren, wurde innerhalb der seit dem Ende der Diktatur regierenden Demokratischen Volkspartei (PDP) abgesprochen, zwischen einem christlich-südlichen und muslimisch-nördlichen Präsidenten hin und her zu wechseln. Durch den natürlichen Tod von Umaru Yar'Adua nach nur drei Jahren Amtszeit 2010 ist diese Verabredung außer Plan geraten. Der Norden fühlt sich durch Jonathans - vorher Vize unter Yar'Adua - Machtübernahme übervorteilt. Das und Jonathans missglückte Strategie gegen Boko Haram bringt Ex-Diktator Muhammad Buhari, ein Muslim aus dem Norden, in eine gute Ausgangslage für die Präsidentschaftswahlen. Auch im Süden, an dem der Terror bisher weitgehend vorbeiging, macht sich die Angst vor Boko Haram inzwischen breit. Nach den Wahlen ist - so vermuten viele - vor dem Krieg gegen Boko Haram.

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