Systemkollaps in der Notaufnahme

In Nordrhein-Westfalen soll mehr als jede vierte ärztliche Notdienstpraxis geschlossen werden

  • Marcus Meier
  • Lesedauer: 6 Min.
In Nordrhein-Westfalen streiten sich niedergelassene Ärzte und Krankenhäuser über die Versorgung von Notfallpatienten. Doch die Unterfinanzierung dieser Sparte ist ein bundesweites Problem.

In der Notdienstpraxis in Bochums Gudrunstraße herrscht nicht wirklich Hochbetrieb. Noch nicht jedenfalls. Peter Hansen* sieht zwei Patienten in der überschaubaren Warteschlange vor sich. Dann lässt er sich sein Medikament verschreiben, freitags am frühen Abend. Eigentlich wollte er am Freitag morgen zum Hausarzt gehen. »Da fühlte ich mich aber zu schlapp. Und nachmittags war der Doktor schon ins Wochenende gegangen.« Ein wirklicher Notfall ist der dezent schusselige Mittvierziger, der vor zwei Wochen operiert wurde, nicht. Er könnte aber schnell einer werden - wenn, ja wenn er seine Tabletten nicht verschrieben bekommt, auf dass er sie am Samstag Morgen aus der Apotheke holen und einnehmen kann.

Nach einer Viertelstunde hat Hansen die hausärztliche Notfallpraxis wieder verlassen. Der Betreiber, die Kassenärztliche Vereinigung, hat vor vier Jahren Räume im Sankt-Josefs-Hospital gemietet und sie dort angesiedelt. Vor Ort versehen Hausärzte abwechselnd den Dienst. Immer dann, wenn andere Hausarztpraxen längst geschlossen haben, am Abend und am Wochenende also. »Für unsere Zentrale Notaufnahme ist das eine spürbare Entlastung, das Zusammenspiel funktioniert gut«, freut sich Prof. Dr. Thomas Weber, der für Intensivmedizin und Notfallversorgung zuständige Direktor des Krankenhauses. Gehfähige Patienten würden in die hausärztliche Notfallpraxis geschickt, während der dortige Arzt Patienten an die Zentrale Notaufnahme des Krankenhauses leiten könne, wenn sie beispielsweise einer aufwendigen Diagnose oder Blutentnahmen bedürften oder sofort behandelt werden müssten, erläutert Weber.

Doch bei Weitem nicht jedes Krankenhaus kommt in den Genuss einer Notdienstpraxis im eigenen Hause. Stattdessen häufen sich in den letzten Wochen in NRW Medienberichte, die von überlasteten Notfallambulanzen lokaler Krankenhäuser künden. Patienten, die sich oft nur subjektiv als Notfall wähnten, würden dort die Wartebereiche verstopfen. Statt sich in die hausärztliche Notdienstpraxis zu schleppen oder bis zum nächsten Morgen oder dem Montag abzuwarten, eilten sie halt ins nächst gelegene Krankenhaus. Wo ist die Notaufnahme?

Zu allem Überfluss reagieren diese Patienten offenbar immer häufiger aggressiv auf jene langen Wartezeiten, die sie selbst miterzeugen. Manches Klinikum hat schon Wachpersonal zum Schutz seiner Ärztinnen und Pfleger angemietet. Da ist mancher nicht amüsiert, wenn die Kassenärztliche Vereinigung Nordrhein nun die Zahl ihrer hausärztlichen Notfallpraxen reduzieren will. Der Grundsatzbeschluss zur »Neustrukturierung« wurde Ende letzter Woche vom Parlament der Kassenärztlichen Vereinigung Nordrhein (KVNO) mit großer Mehrheit gefasst, verkündet die Pressestelle der öffentlich-rechtlichen Körperschaft, die für die Regionen Köln, Düsseldorf und Umland zuständig ist.

»Die Ökonomie darf nicht über die Interessen der Patienten gestellt werden«, fordert plakativ eine Interessenwalterin der Krankenhausbetreiber, nämlich die Krankenhausgesellschaft Nordrhein-Westfalen. Und ihr Geschäftsführer Matthias Blum klagt: Die Schließungen würden den Druck auf die Krankenhäuser enorm erhöhen. Einer massiv steigenden Anzahl von Patientinnen und Patienten stünde dann »eine gleichbleibende Belegschaft im Krankenhaus gegenüber«. Und die wäre mit einem solchen Ansturm schlicht überfordert, sagt Blum nicht durch die Blume.

Zum ärztlichen Dienst auch außerhalb der üblichen Sprechstundenzeiten sind die niedergelassenen Ärzte verpflichtet. Bundesweit kommen unterschiedliche Modelle zum Tragen. In Berlin beispielsweise gibt es keine Notdienstpraxen wie in NRW. Dafür öffnet mancher Arzt seine Warte- und Behandlungszimmer auch zu unkonventionellen Zeiten. Zudem sind wochentags acht und am Wochenende 16 Ärzte im Auto zu Patienten unterwegs. Hier verdient sich, so ist zu hören, manch geschickt agierender Arzt ein erkleckliches Zubrot.

Das ist allerdings eher die Ausnahme. Die politische Ökonomie der Notfallmedizin funktioniert anders: Jährlich sind in Deutschland gut 22 Millionen vermeintliche oder tatsächliche Notfallpatienten zu behandeln. Ihre Zahl steigt seit Jahren. Doch die Betreuung rechnet sich oft nicht - weder für die Kassenärzte noch für die Krankenhäuser.

Nur knapp 40 Prozent aller Patienten in den Notaufnahmen der Krankenhäuser landen tatsächlich im Bett des gleichen Hauses - und bringen dann im Schnitt 3000 Euro ein. Aber auch bei ambulanten Behandlungen und Pseudo-Notfällen fällt der gesamte Verwaltungsaufwand an - das bürokratische Aufnahmeprocedere, der ärztliche Bericht und alles, was dazwischen liegt. Mittlerweile sind rund 37 Prozent der Patienten in den Notaufnahmen deutscher Krankenhäuser so genannte »Selbstvorsteller«. Das heißt: Sie werden weder vom Rettungsdienst gebracht noch vom Hausarzt geschickt, sondern kommen aus eigenem Antrieb. Und der ist oft irrational, jedenfalls nicht medizinisch-objektiv nachvollziehbar. Im Schnitt verdienen die Krankenhäuser pro »vorstationärem« Patienten 165 Euro. Das ist jedoch nicht kostendeckend. Das Minus läge bei 61 Euro pro Fall, rechnet die Deutsche Gesellschaft für Interdisziplinäre Notfall- und Akutmedizin vor, zu deren Trägern auch der Krankenhausverband zählt.

In den hausärztlichen Notdienstpraxen schaut es noch schlechter aus: Rund 30 Euro Einnahmen stehen sehr grob geschätzten Kosten in Höhe von 100 Euro gegenüber. Das System funktioniert nur dank Quersubventionierungen - und schafft für Krankenhäuser wie Ärzte ökonomische Anreize, Notfallpatienten lieber dem jeweils anderem zu überlassen. Oder zu sparen. Am besten jedoch beides.

Kein Wunder, dass man da auch in der Kassenärztlichen Vereinigung Nordrhein überlegt, Notdienstpraxen zusammenzulegen. Das Ziel wird in einem Papier klar benannt: »Sicherstellen einer wirtschaftlich angemessenen, ausreichenden Notdienstversorgung«. Mehr nicht. 21 der bisher 77 allgemein- und kinderärztlichen Notdienstpraxen sollen geschlossen werden, der Fahrdienst für Hausbesuche an Effizienz gewinnen. Insgesamt wollen die Ärzte weniger Dienste leisten müssen.

Beim NRW-Landesverband des Sozialverbandes Deutschland (SoVD) ist man entsetzt. Es sei akuten Notfallpatienten nicht zumutbar, Dutzende Kilometer und über Stadtgrenzen hinweg in die nächste Notdienstpraxis zu fahren. »Vor allem ältere und gebrechliche Menschen und solche mit Behinderungen haben oft gar kein Auto, um das mal eben zu bewerkstelligen«, mahnt SoVD-Landeschef Klaus-Dieter Skubich. Und der Bedarf an Notfallpraxen dürfte angesichts einer alternden Gesellschaft eher noch zunehmen, befürchtet der SoVD NRW.

Allein in Köln sollen sechs Notdienstpraxen geschlossen werden. Die dortige Linkspartei sieht dadurch die »notwendige Grundversorgung« gefährdet. Das betreffe auch das Umland, von wo aus Patienten in die Großstadt strömten, um von der geballten ärztlichen Kompetenz zu profitieren. Nordrhein-Westfalens Gesundheitsministerin Barbara Steffens sieht sich derweil nicht in der Verantwortung, auch wenn sie es nach eigenem Bekunden gerne wäre. »Die Neuorganisation des ärztlichen Notdienstes erfolgt in alleiniger Verantwortung der ärztlichen Selbstverwaltung. Der Bund gesteht dem Land hierbei kein Mitspracherecht zu.« Die Grünen-Politikerin sagt, sie dränge seit Jahren auf mehr Mitspracherechte des Landes. Gegen eine Neuorganisation des ärztlichen Notdienstes hegt Steffens indes keine grundsätzlichen Bedenken. Doch müsse die Patientenorientierung klar im Vordergrund stehen und auch im Notdienst die Versorgung in angemessener Entfernung und Zeit sichergestellt bleiben.

Einen anderen Aspekt betont man beim Verband demokratischer Ärztinnen und Ärzte (VDÄÄ). »In Deutschland ist das Gesundheitswesen im Allgemeinen und die Notfallmedizin im Speziellen sehr arztzentriert, und dadurch hierarchisch, teuer und ineffektiv«, sagt VDÄÄ-Bundesvorstandsmitglied Michael Janßen, »Dabei wäre es besser, wenn zunächst eruiert würde, ob der Patient überhaupt einen Arzt braucht«, so der in Berlin-Neukölln praktizierende Allgemeinmediziner mit Blick auf Norwegen. Hier existieren in den Gemeinden Akutkliniken, in denen medizinisches Personal entscheidet, ob der Patient in eine Notaufnahme kommt.

* Name von der Redaktion geändert

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