Bouffier weiß angeblich von nichts

NSU-Mord in Kassel: Vorwürfe gegen Verfassungsschutz und Hessens Ministerpräsidenten

  • René Heilig
  • Lesedauer: 4 Min.
Abhörprotokolle zum Thema NSU belasten den hessischen Verfassungsschutz. Ministerpräsident Volker Bouffier (CDU) kommt immer stärker in die Schusslinie. Er leugnet. Und lügt, sagt die LINKE.

Wusste der damalige V-Mann-Führer des hessischen Verfassungsschutzes Andreas Temme bereits vor dem NSU-Mord an Halit Yozgat am 6. April 2006 von der geplanten Tat?

Der Name Temme füllt viele Ermittlerbände. Er war zur Tatzeit in Kassel am Tatort, dem Internetcafé von Halit Yozgat. Angeblich hat er nichts von dem Mord mitbekommen. Doch das hätte er ja der Polizei, die einen Zeugenaufruf gestartet hatte, sagen können. Er meldete sich nicht. Als man seine Identität ermittelt hatte, grub man in Temmes Privatleben. Er war ein Waffennarr, der die Nähe von Rockern suchte und in seiner Jugend «Klein Adolf» genannt wurde, weil er Hitlers «Mein Kampf» abschrieb.

Die Polizei hörte Temmes Dienst- und Privatanschluss ab. Wer die hessischen Verhältnisse kennt, wer weiß, mit welcher Allmacht der Verfassungsschutz zu Zeiten des damaligen Innenministers und heutigen Ministerpräsidenten Volker Bouffier (CDU) agieren konnte, muss das als mutige Tat bewerten.

Die Protokolle der sogenannten TKÜ-Maßnahme dagegen lesen sich mit all ihrem «hey», «äh», «mhm» und noch schlimmeren Banalitäten etwas kompliziert. Kaum vorstellbar aber, dass der Polizei die wenigen wichtigen Sätze entgangen sein sollen. Einer wurde am 9. Mai 2006 vom Geheimdienstkollegen Hess zu Temme gesagt: «Ich sage ja jedem: Wenn er weiß, dass irgendwo so etwas passiert, bitte nicht vorbeifahren. Ja, es ist Sch ...»

Nimmt man - wie die recherchierenden Nebenklagevertreter der Familie Yosgat - die Logik zu Hilfe, so scheint ziemlich klar: Zwischen den Telefonierenden gab es Konsens darüber, dass der V-Mann-Führer vor der Tat wusste, dass «so etwas passiert». Sonst hätte Temme dem Kollegen Hess doch sofort widersprochen. Bekannt ist, dass Temme nicht nur am Tag des Mordes mit seinem V-Mann Benjamin Gärtner, der Verbindungen in das Blood&Honour-Netzwerk hatte, telefonierte, sondern auch am 8. Juni und am 14. Juni 2005. An jenen Tagen mordete der NSU in Nürnberg und München. Nun kam heraus, dass Temmes V-Mann just zu den Tattagen aller Wahrscheinlichkeit auch in Nürnberg und München war.

Nun haben die Hinterbliebenen-Anwälte vor dem Münchner Gericht Beweisanträge gestellt. Sie wollen unter anderem Bouffier laden. Der hielt gestern - laut Twitter - alle Vorwürfe gegen ihn für eine «Ungeheuerlichkeit» und eine «Unverschämtheit» und plusterte sich vor der Landespressekonferenz auf. Dass er die Ermittler behinderte, steht aber bereits im Abschlussbericht des NSU-Bundestagsuntersuchungsausschusses. Ebenso, dass Hessen kein Interesse am Aufrollen des «Falles Temme» hatte. Das zeigte sich beispielsweise an der unwilligen und unvollständigen Zulieferung der Akten. Zwar gab man dem Ausschuss die Protokolle von Telefonaten zwischen Temmes Frau und ihrem Arzt, doch das Gespräch zwischen Temme und Herrn Hess rückte man nicht raus. Schlamperei? Vorsatz?

Auch was die Polizei zur Aufhellung der Verfassungsschutzrolle beitragen konnte, bleibt dünn. Unter anderem deshalb, weil der damalige Innenminister Bouffier eine direkte Befragung von Temmes V-Leuten durch die Mordkommission verhinderte. Zudem soll der CDU-Mann laut Beweisantrag der Nebenklage dafür gesorgt haben, dass der verdächtige Verfassungsschützer während der Ermittlung weiter seine Bezüge erhielt. In diesem Klima unterstützten Geheimdienstkollegen Temme in vielfacher Weise. «Das Dienstliche ist gar nicht so schlimm, Andreas», liest man in einem abgehörten Gesprächsprotokoll. In anderen Gesprächen wird Temme aufgefordert, «das Ganze am Stück» nur unter vier Augen zu erzählen. Beraten wird, wie man die Polizei auf Distanz halten kann. Polizei und Staatsanwaltschaft hofften, Temme redet, wenn er die Rückendeckung des Geheimdienstes verliert. Doch das geschah nicht.

Die neu entdeckten Fakten scheinen einiges ausgelöst haben. Bislang nämlich waren weder die parlamentarischen CDU- noch die Grünen-Ermittler durch Eifer aufgefallen. Nun halten die beiden Fraktionschefs den Vorwurf, der Geheimdienst habe vorab vom Mord an Yozgat gewusst, immerhin für so «schwerwiegend», dass er «umgehend aufgeklärt und aus der Welt geschafft werden» muss. Michael Boddenberg (CDU) und Mathias Wagner (Grüne) wollen «diesen Komplex vorziehen».

Es zeige sich nun, «warum Schwarz-Grün eine Blockade-Strategie gefahren hat und dem Ausschuss bis heute keine Akten vorgelegt wurden. Doch nun, so Hermann Schaus, Obmann der Linksfraktion am Dienstag, sei es nicht mehr die Frage, ob Temme und der hessische Verfassungsschutz sowie das von Bouffier geführte Innenministerium die Polizei und das Parlament hinters Licht führten, »sondern warum sie es taten«. Seine Fraktion legte Belege vor, die Bouffiers »Unterstützungshaltung für Tatverdächtige« zeigen, und bezichtigte ihn der »wissentlichen Falschaussagen vor dem Hessischen Landtag«. Fazit der Linksfraktion: Das Ausmaß an Vertuschung im Fall der bundesweiten Neonazi-Mordserie mache einen Ministerpräsidenten Bouffier »untragbar«.

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