Ist das gerecht?
Absturz in den Alpen
Hundertfünfzig Tote. Plötzlich. Mitten am Tag. Mitten in Europa. Eine der größten Katastrophen deutscher Luftfahrt, heißt es. Hundertfünfzig Tode. Von jedem einzelnen Tod Angehörige, Freunde, Bekannte betroffen, fassungslos, schockiert, entsetzt, erschüttert, zerstört. Aber auch Menschen, die keinen der Abgestürzten kannten, geraten in Strudel von Emotionen, erfühlen Empathie mit Hinterbliebenen, sinnieren über die unkalkulierbare Kontingenz allen Lebens, den Einbruch des Verhängnisses, die unerbittliche Diktatur des Endlichen. Lebende werden gleichsam zu Überlebenden.
Ist das gerecht? Sterben nicht täglich, stündlich Menschen bei Verkehrsunglücken, Naturkatastrophen, auf Kriegsschauplätzen, in Hungersnöten oder während Epidemien? Auch auf einmal in großer Zahl? Allein die Nachrichten von der Fluchtroute Mittelmeer sind durchaus geeignet, hier Relationen zu schaffen.
Es ist nicht gerecht. Natürlich nicht. Aber Gerechtigkeit ist auch nicht die Kategorie, mit der Tragödien wie die in den französischen Alpen zu erfassen und zu bewerten sind. Das Leben ist nicht gerecht und der Tod ist es nicht. Und was mit Flug 4U-9525 passierte, gehört nun einmal zu jenen Ereignissen, die nicht sein dürften. Weil sie das scheinbar technisch perfektionierte und logistisch abgesicherte Dasein in seiner Schadhaftigkeit und Unzulänglichkeit zeigen und so in eine existenzielle Krise stürzen.
Eine Erkenntnis, eine Einsicht, die Menschen fernab aller direkten Einbezogenheit in ein Unglück, eine Katastrophe von Sorge, aber auch Mitgefühl erfüllt sein lässt, ist: Das hätte mir ebenso passieren können; das könnte mir ebenso passieren. Daher wohl auch rührt die Atemlosigkeit, mit der die Medien jedes Detail des Geschehenen akribisch betrachten, sezieren, fragend zu erhellen suchen: Wo ist die Black Box? Was war der letzte Funkspruch? Wie alt war das Flugzeug? Wann wurde es zuletzt gewartet? Gab es nicht doch Anzeichen für einen Anschlag? Die Quintessenz aller Erkundungen, Ermittlungen, Vermutungen ist letztlich begleitet von Hoffnungsvollem. Dass sich ein Grund, ein monokausaler womöglich, findet, der dem gebrochenen Gefühl der Sicherheit wieder Halt bietet mit dem Versprechen: So etwas passiert nicht noch einmal. Das hoffen auch Besitzer von Lufthansa- und Airbus-Aktien, die derzeit Verlust machen. Verlust - welch zynischen Klang dieses Wort annehmen kann.
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