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Segen und Fluch der Chemie

Vor 175 Jahren legte Justus von Liebig den Grundstein zur modernen Agrikultur. Von Martin Koch

  • Martin Koch
  • Lesedauer: 8 Min.

Pflanzen brauchen zum Wachstum Nährstoffe, die sie dem Boden entziehen: Stickstoff, Phosphor, Kalium, Magnesium, Schwefel, Kalzium. Gewöhnlich gehen diese Elemente im biologischen Kreislauf nicht verloren. Das heißt, wenn eine Pflanze abstirbt und verrottet, gelangen ihre organischen Reste zurück in den Boden und werden dort von Bakterien und Kleinstlebewesen zersetzt. Dadurch entsteht fruchtbarer Humus, der angereichert ist mit Nährstoffen für eine neue Generation von Pflanzen.

Die Landwirtschaft unterbricht diesen natürlichen Zyklus. Denn bei jeder Ernte tragen die Bauern die potenziellen Nährstoffe buchstäblich vom Acker. Die Folge: Der Boden laugt aus und verliert mit der Zeit an Fruchtbarkeit. Wie aus zahlreichen Überlieferungen hervorgeht, hatten bereits die Bauern in der Antike mit diesem Problem zu kämpfen. Und sie fanden einen Weg, der zunehmenden »Erschöpfung« des Bodens entgegenzuwirken: Sie düngten ihre Felder. Die Babylonier verwendeten hierfür organische Substanzen wie Stallmist und Gülle, die Ägypter nutzten den bei Überschwemmungen zurückbleibenden mineralhaltigen Nilschlamm.

Eine der frühesten literarischen Erwähnungen der Düngung findet sich in der »Odyssee« von Homer, die im achten vorchristlichen Jahrhundert entstand. Von einem »großen Haufen vom Miste der Mäuler und Rinder« ist dort die Rede, den die Knechte des Odysseus auf die Äcker des Königs streuten. Erfindungsreicher noch waren die alten Römer. Sie praktizierten nicht nur die Gründüngung, indem sie Hülsenfrüchte und andere Pflanzen unterpflügten, sondern versuchten es auch mit einer chemischen Beeinflussung des Bodens. Kurzum, sie bestreuten ihre Felder mit Mergel, einem Kalk-Ton-Gemisch, das den Boden basischer und damit zeitweise fruchtbarer machte. Da Mergel außer Kalk jedoch keine anderen Nährstoffe enthält, war der Boden auch hier irgendwann verbraucht, sprich »ausgemergelt« - ein Wort, das heute zum allgemeinen Sprachgebrauch gehört und so viel wie »abgemagert« oder »kraftlos« bedeutet.

Vom Mittelalter bis in die frühe Neuzeit verschärfte sich das Problem der abnehmenden Bodenfruchtbarkeit. Es kam zu katastrophalen Missernten und Hungersnöten, die die Bevölkerung vielerorts bedrohlich dezimierten. Der britische Ökonom Thomas Robert Malthus zog daraus 1798 einen folgenschweren Schluss: Da die Nahrungsmittelproduktion nur arithmetisch wachse, die Weltbevölkerung aber geometrisch, könne die Erde nicht alle Menschen ernähren, die auf ihr lebten.

Einer, der sich mit einer solchen düsteren Prognose nicht abfinden wollte, war der deutsche Chemiker Justus von Liebig (1803-1873). Aus zahlreichen Untersuchungen hatte er die Erkenntnis gewonnen, dass ein Boden für eine gegebene Pflanzengattung fruchtbar ist, »wenn er die für diese Pflanze notwendigen mineralischen Nahrungsstoffe in gehöriger Menge, in dem richtigen Verhältnis und in der zur Aufnahme geeigneten Beschaffenheit enthält«. Damit widersprach Liebig der damals verbreiteten Humus-Theorie, die besagte, dass die organische Substanz der Pflanzen großenteils aus der organischen Substanz des Bodens stamme, dass also Pflanzen sich gleichsam von Humus ernährten.

Den Grundstein zur Mineraltheorie der Bodenfruchtbarkeit legte Liebig in seinem 1840 erschienenen Werk »Die Chemie in ihrer Anwendung auf Agricultur und Physiologie«. Dort heißt es: »Wenn ein Boden seine Fruchtbarkeit dauernd bewahren soll, so müssen ihm nach kürzerer oder längerer Zeit die entzogenen Bodenbestandteile wieder ersetzt werden, d.h. die Zusammensetzung des Bodens muss wieder hergestellt werden.«

Tatsächlich führte die von Liebig initiierte Mineraldüngung des Bodens in der Folge zu einem kräftigen Anstieg der Ernteerträge. Das wiederum war eine wichtige Voraussetzung für den Aufschwung der Industrialisierung, wie kein Geringerer als Karl Marx hervorhob, der bei seinen Vorarbeiten für sein Hauptwerk »Das Kapital« mehrere Schriften Liebigs ausgiebig studiert hatte. Auch in dem Filmklassiker »Die Feuerzangenbowle« glänzt der als Chemielehrer verkleidete Oberprimaner Hans Pfeiffer mit einem Liebig-Zitat: »Wer es schafft, zwei Halme wachsen zu lassen, wo vorher nur ein Halm wuchs, der ist größer als der größte Feldherr.«

Eine der epochalen Erfindungen Liebigs war der sogenannte Superphosphat-Dünger, der Pflanzen schnell und wirksam mit Phosphor versorgt und bis heute weltweit zum Einsatz kommt. Im Fall des Elements Stickstoff hingegen verfolgte Liebig eine falsche Spur. Er glaubte nämlich, dass das in der Luft enthaltene Ammoniak ausreichen würde, um Pflanzen mit Stickstoff zu versorgen, so dass keine zusätzliche Düngung nötig sei. »Darum kann die Unfruchtbarkeit unserer Felder nicht herrühren von einem Mangel an Stickstoff«, schrieb er 1856. Zur gleichen Zeit experimentierten englische Landwirte mit stickstoffhaltigem Guano-Dünger, der ihnen erhebliche Erntegewinne bescherte. Erst in der siebten Auflage seines erwähnten Werkes (1862) räumte auch Liebig die Notwendigkeit der Stickstoffdüngung ein.

Doch ihm unterlief noch ein weiterer folgenreicher Fehler: Er nahm an, dass wasserlösliche Düngemittel vom Regen zu tief in den Boden gespült und damit für die Wurzeln der Pflanzen unerreichbar sein würden. Deshalb ließ er seinen in England produzierten »Patentdünger«, der unter anderem Knochenmehl, Kaliumsilikat, Magnesiumsulfat und Ammoniumphosphat enthielt, wasserunlöslich aufbereiten. Und obwohl dieser Dünger auf den Feldern versagte, dauerte es einige Jahre, bis Liebig seinen Irrtum eingestand und auf wasserlösliche Düngemittel umstellte.

Pflanzen nehmen Stickstoff überwiegend in Form von Nitraten auf. Um diese dem Boden zuzuführen, wurde zunächst Salpeter verwendet, der jedoch nicht überall verfügbar war. Denn die einzige technologisch bedeutsame Salpeterlagerstätte befand sich in der Atacamawüste in Chile. Von hier importierte auch das deutsche Kaiserreich den begehrten Rohstoff. Um sich von dieser Abhängigkeit zu befreien, suchten Wissenschaftler nach Möglichkeiten, die zur Düngung benötigten Nitrate selbst herzustellen. 1909 gelang dem deutschen Chemiker Fritz Haber der Durchbruch: die Ammoniaksynthese. Hierbei wird Ammoniak bei hohen Temperaturen und Drücken sowie der Anwesenheit eines Katalysators aus Luftstickstoff und Wasserstoff erzeugt. Das stechend riechende Gas lässt sich zu Salpetersäure und Ammoniumnitrat weiterverarbeiten und kann daher für die Herstellung von Kunstdüngern ebenso verwendet werden wie zur Produktion von Sprengstoffen.

Zusammen mit dem Chemiker Carl Bosch löste Haber auch das Problem der industriellen Umsetzung seiner Entdeckung. 1913 nahm die BASF in Oppau bei Ludwigshafen die erste Fabrik zur Ammoniakherstellung in Betrieb. Im Jahr darauf begann der Erste Weltkrieg, und die BASF wurde in das deutsche Rüstungsprogramm integriert. Denn mit den vorhandenen Salpetervorräten hätte Deutschland nur bis Mai 1915 Munition herstellen und damit Krieg führen können. Um eine solche Entwicklung abzuwenden, gab Bosch der Obersten Heeresleitung im Herbst 1914 das sogenannte Salpeterversprechen. In den folgenden Monaten entwickelten BASF-Chemiker ein großtechnisches Verfahren zur Gewinnung von militärisch verwertbarer Salpetersäure aus Ammoniak. Ab Mai 1915 startete auf dieser Basis die Produktion.

Seit Frühjahr 1914 wurde bei der BASF auch Düngemittelforschung betrieben - im Agrarzentrum Limburgerhof, dessen Gründung gleichsam den Beginn der industriellen Agrarchemie in Deutschland markierte. Hier wurden unter anderem die stickstoffhaltigen Verbindungen Ammonnitrat (1915) und Ammonsulfatsalpeter (1919) sowie der Volldünger Nitrophoska (1927) hergestellt.

Nach dem Ende des Zweiten Weltkriegs kamen Kunstdünger in der gesamten industriellen Welt zum Einsatz. Dadurch konnten die Ernteerträge um bis zu 200 Prozent gesteigert und die Grundlagen dafür geschaffen werden, dass heute rund sieben Milliarden Menschen auf der Erde leben. Doch die großflächige und teilweise übermäßige Düngung des Bodens blieb nicht ohne ökologische Folgen. Schon Marx war in Anlehnung an Liebig zu dem Schluss gelangt: »Jeder Fortschritt der kapitalistischen Agrikultur ist nicht nur ein Fortschritt in der Kunst, den Arbeiter, sondern zugleich in der Kunst, den Boden zu berauben, jeder Fortschritt in Steigerung seiner Fruchtbarkeit für eine gegebne Zeitfrist zugleich ein Fortschritt im Ruin der dauernden Quellen dieser Fruchtbarkeit.«

Heute sind die Gefahren, die von einer mineralischen und organischen Überdüngung ausgehen, allgegenwärtig. So führt ein hoher Nitratgehalt im Boden zu einer Nitratbelastung von Nahrungsmitteln, bei deren Verzehr im Magen krebserregende Nitrosamine entstehen können. Darüber hinaus werden die überschüssigen Nitrate und Phosphate häufig aus dem Boden ausgewaschen und ins Grundwasser gespült. Doch anders als gemeinhin angenommen, tragen viel mehr als die künstlichen die organischen Dünger aus der Massentierhaltung zu diesem Nitratüberschuss bei. Denn sie liegen gewöhnlich länger auf den Feldern, selbst im Winter, wenn Pflanzen die angebotenen Nährstoffe gar nicht verwerten können.

Auch stehende Gewässer werden durch Nitrate und Phosphate oft stark belastet. Dadurch kommt es zu einem vermehrten Algenwachstum und nicht selten zu einer »Eutrophierung« des Wassers. Das heißt, die Algen nehmen anderen Pflanzen das Licht, so dass diese absterben, auf den Boden sinken und dort zersetzt werden. Dabei wird nicht nur der für Fische lebensnotwendige Sauerstoff verbraucht. Es entstehen auch giftige Faulgase, die das Gewässer letztlich in eine Todeszone verwandeln.

Trotz gravierender Umweltprobleme durch Chemie forschen Wissenschaftler heute weltweit an einer neuen Wirkstoffklasse: den Bioregulatoren. Während herkömmliche Dünger die Pflanzenentwicklung allgemein befördern, beeinflussen Bioregulatoren gezielt das Wachstum von Früchten, Wurzeln oder Halmen. Ein Beispiel hierfür wäre Chlorcholinchlorid, eine wasserlösliche Ammoniumverbindung, die bei verschiedenen Getreidesorten das Längenwachstum der Halme bremst und damit die Pflanze robuster gegen Wind und Niederschlag macht. Ob Bioregulatoren tatsächlich die in sie gesetzten Erwartungen erfüllen, muss sich allerdings erst erweisen. Denn noch weiß niemand, ob die Vor- und Nachteile einer solchen agrarwissenschaftlichen Neuerung in einem vertretbaren Verhältnis zueinander stehen.

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