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Was Roosevelt Europa raten würde

Kleines Griechenland, großer Katalysator: Zur Möglichkeit progressiver Transformation im Rahmen des Kapitalismus

  • Dieter Klein
  • Lesedauer: 9 Min.
Ist in Europa wirklich keine Rebellion in Sicht? Kein Anlass nirgends für den herrschenden Block, von seiner gegenwärtigen Politik Abstriche zu machen?

Das kleine Griechenland ist zurzeit der große Katalysator in der politischen und konzeptionellen Schlacht zwischen neoliberaler Austeritätspolitik und humanorientierter Alternative. Die Gläubiger Griechenlands, die Troika von Europäischer Kommission, Europäischer Zentralbank und IWF und vor allem die deutsche Regierung bestehen auf der Fortsetzung ihrer gleichermaßen antisozialen wie ökonomisch sinnwidrigen Politik. Ihre Sparpolitik bewirkt im gesamten EU- und Euroraum eine hartnäckige Stagnation - das Bruttoinlandsprodukt der Eurozone wuchs 2014 nur um 0,8 Prozent.

In Griechenland wurde die Austeritätspolitik besonders rigoros durchgesetzt. Das Resultat ist desaströs: Erhöhung des griechischen Haushaltsdefizits von 107,2 Prozent des Bruttoinlandsprodukts im Vorkrisenjahr 2007 auf 174,7 Prozent 2014 und Anstieg der Arbeitslosenquote in diesem Zeitraum von 8,3 auf 26,3 Prozent. Mehr als 50 Prozent der Jugendlichen sind arbeitslos, rund drei Millionen Griechen haben keine Krankenversicherung. Das marktradikale Antikrisenkonzept der europäischen Machteliten hat das als ökonomisches Lebenselixier beschworene Wachstum eher abgewürgt als gefördert und schon gar nicht in ökologische Bahnen gelenkt. Vor allem hat es in millionenfache menschliche Katastrophen geführt.

Über den Autor

Dieter Klein, Jahrgang 1931, ist Senior Fellow am Institut für Gesellschaftsanalyse der Rosa-Luxemburg-Stiftung. Er hat Wirtschaftswissenschaften an der Humboldt-Universität studiert, war Direktor des Instituts für Politische Ökonomie und Prorektor für Gesellschaftswissenschaften. Maßgebliche Mitwirkung am Forschungsprojekt »Moderner Sozialismus«. Dieter Klein ist Mitglied im Institut Solidarische Moderne, im Willy-Brandt-Kreis und der Michael-Schumann-Stiftung; zudem hat er in den Programmdebatten von PDS und Linkspartei mitgewirkt.

Diese Grundkonstellation ist nicht neu. Im ersten Drittel des letzten Jahrhunderts hatten in den USA und Europa das realitätsferne Festhalten des Establishments an dem Dogma der Selbstheilungskräfte des Marktes und die Ablehnung jeder staatlichen Verantwortung für die Wohlfahrt der Bevölkerungsmehrheit in die bis dahin größte ökonomische und soziale Krise des Kapitalismus geführt, in die Weltwirtschaftskrise 1929/32.

So wie gegenwärtig die herrschenden Kräfte in Europa unbelehrbar ihre Politik am Wohlwollen oder an der Missbilligung durch »die Märkte« orientieren, das heißt an den Interessen internationaler Finanzimperien und transnationaler Konzerne, verhielt sich zu Beginn der 1930er Jahre auch der republikanische Präsident Hoover. Sein Herausforderer in den Präsidentschaftswahlen 1932, Franklin Delano Roosevelt, vertrat eine völlig konträre Position. Er deklarierte als seine Maxime politischen Handelns: »Das Land braucht und das Land verlangt, wenn ich seine Stimmung nicht falsch einschätze, beharrliches Experimentieren. Es ist gesunder Menschenverstand, eine Methode zu versuchen und, wenn sie scheitert, das freimütig zuzugeben und eine andere zu versuchen.« Die Schlussfolgerung Roosevelts, seiner Regierung, seines Brain-Trusts und der Mehrheit der Demokratischen Partei war, die durch die Weltwirtschaftskrise diskreditierte ungezügelte Macht der größten Finanzmagnaten und Industrietycoons durch einen sozial orientierten Staatsinterventionismus zu korrigieren - wie unvollkommen auch immer.

Der daraus entspringende New Deal war eine weitreichende progressive Transformation im Rahmen des Kapitalismus, der Übergang von einem vorwiegend privatmonopolistischen Kapitalismus zu einem immer noch monopoldominierten, jedoch (sozial)staatlich regulierten Kapitalismus. Er war das Resultat eines mit heftigen Kämpfen verbundenen Lern- und Differenzierungsprozesses innerhalb der US-Machteliten. Einschließlich der Familienangehörigen lebten zeitweilig rund 25 bis 30 Millionen Amerikaner von öffentlichen Beschäftigungsprogrammen. Und die Überlegung drängt sich auf, ob dies denn wirklich keinen Denkanstoß für den Umgang der EU-Machteliten mit den Arbeitslosen in Griechenland und Spanien und Portugal und anderen Ländern birgt.

Der National Recovery Act verankerte erstmalig in der Geschichte der USA das Recht freier überbetrieblicher gewerkschaftlicher Organisierung und kollektiver Tarifverhandlungen, gewerkschaftliche Vertretungen der Lohnabhängigen in den Unternehmen, die Respektierung von Mindestlöhnen und den Übergang zur 40-Stunden-Woche. Was für ein Rückfall rund 80 Jahre danach, wenn Steffen Kampeter, CDU-Staatssekretär im Bundesfinanzministerium, zu den Vorhaben der SYRIZA-geführten Regierung nichts anderes als die Troika-Verdikte einfallen. Damals wurden die Rechte der arbeitenden Bevölkerung ausgeweitet, heute gelten sie als schlimmer Verstoß gegen das Regelsystem der Eurozone.

Im Rahmen des New Deal wurden erstmalig in den USA staatliche Sozialversicherungssysteme eingeführt. Umfangreiche staatliche Infrastrukturinvestitionen sicherten Beschäftigungszuwachs, finanziert unter anderem durch hohe Spitzensteuersätze, Einführung einer Körperschaftsteuer und eine Sondersteuer auf nicht investierte Gewinne. Die Banken wurden einer strengen staatlichen Aufsicht unterstellt.

Die staatliche Reconstruction Finance Corp. reagierte auf die Krise des Bankensystems mit dem Erwerb von Vorzugsbankaktien und war im Mai 1934 mit 31 Prozent am Kapital der 100 größten US-Banken beteiligt - gegen deren anfänglichen heftigen Widerstand. Der Glass-Steagal-Act verfügte die Trennung des Kreditgeschäfts der Banken und des Investmentbanking. Aber der Status einer Universalbank, die beide Typen vereint, war die Basis für die Hegemonie der Morgan-Gruppe in der amerikanischen Finanzwelt. Entsprechend wütend war der Widerstand der Morgan-Bank gegen dieses Gesetz und gegen den gesamten New Deal. Ebenso positionierten sich nach kurzer anfänglicher Unterstützung des New Deal unter anderem die duPont-Dynastie, die meisten großen Stahlkonzerne, Henry Ford, das Bankhaus Warburg, die Vanderbilt-Gruppe und der Zeitungszar William Hearst gegen Roosevelts Politik.

Doch im Gegensatz zu Europas gegenwärtigen Spitzenpolitikern ging die Roosevelt-Fraktion vor diesem konservativen Machtblock nicht in die Knie. Roosevelt scheute sich nicht, dem konservativen Flügel der Machteliten den Fehdehandschuh hinzuwerfen. In einer Rede am 31. Oktober 1936 im Madison Square Garden erklärte er: »Wir kämpfen ... gegen die Hochfinanz- und die Wirtschaftsbosse, die gewissenlosen Spekulanten, gegen die Klassenspaltung, den Partikularismus und gegen die Kriegsprofiteure. Sie alle haben sich daran gewöhnt, die amerikanische Regierung als Anhängsel ihrer Geschäfte zu betrachten. Wir wissen nun, vom organisierten Geld regiert zu werden, ist genauso gefährlich, wie von der Mafia regiert zu werden. Jetzt hassen sie mich, und ich nehme ihren Hass entgegen. In meiner ersten Amtszeit haben die Kräfte des Egoismus und der Gier in mir einen gleichwertigen Gegner gewonnen. In einer zweiten Amtszeit werden sie in mir ihren Bezwinger finden.« Wie nimmt sich doch im Spiegel solcher Rede das Format des Spitzenpersonals unserer Gesellschaft aus, der personifizierten Alternativlosigkeit zu dem, was »die Märkte« diktieren!

Präsident Roosevelt konnte sich allerdings nicht nur auf einen Teil des politischen Establishments stützen, sondern auch auf wichtige Teile der ökonomischen Machteliten. Vor allem durch die Krisenturbulenzen genötigt, teils von der Regierung gedrängt, teils aus eigener Einsicht in die Unvermeidbarkeit weitgehender Kompromisse mit der unter der Krise leidenden und zunehmend rebellierenden Bevölkerung unterstützten auch Teile der ökonomischen Elite eine stärkere staatliche Regulierung von Wirtschaft und Gesellschaft mit deutlichen sozialen Akzenten.

Eine Hauptstütze der innersystemischen Transformationspolitik in Gestalt des New Deal waren zumindest in dessen Frühphase 1933 die Standard Oil of New Yersey, der Kern der Rockefeller-Gruppe, ferner die Spitzenvertreter von Royal Dutch Shell, General Electric, General Motors und der Remington Rand sowie bemerkenswert viele Unternehmen der Konsumgüterindustrien und großer Versand- und Warenhäuser, die von der Stabilisierung der Massenkaufkraft durch die New-Deal-Reformen unmittelbar profitierten. Dazu gehörten beispielsweise Reynold Tobacco, Sears Roebuck, Strauss-Wood und Macy’s. In der zweiten Phase des New Deal 1935-1938 zählten unter anderem auch IBM, ITT, der Manufacturers Trust, PanAm, International Harvester, United Fruit und Coca-Cola zu den Stützen des New Deal in den ökonomischen Machteliten.

Eine Gemengelage unterschiedlicher Motive lag dem zu Grunde: Rettung vor dem Einbruch der Kapitalverwertung in der Krise nur noch durch den Staat, Kapitalinteressen an stabilisierter Massenkaufkraft, Interessen an der Einbindung von Gewerkschaften in den Funktionsmechanismus des Systems anstelle unkontrollierbarer Klassenkämpfe, Widersprüche zwischen Industrieinteressen und Bankinteressen, spezifische Brancheninteressen, eine Art kapitalpatriotisches Interesse an einem befriedeten mächtigen Amerika, sogar ökologische Visionen wie bei der langfristigen Sanierung des sozial und ökologisch heruntergewirtschafteten Tennessee-Tals und sicher auch ein Gefühl für soziale Verantwortung bei einem Teil der Mächtigen.

Alle diese Motive trafen sich in dem Grundinteresse, den Kapitalismus durch eine progressive Selbsttransformation vor der Bedrohung durch revolutionäre Lösungen zu bewahren. Es waren in erheblichem Maß die Rebellion der Arbeitslosen und die Kämpfe noch beschäftigter Lohnabhängiger, die Teile der Machtelite um Roosevelt alarmierten und zu ihrem Reformkurs trieben.

Die Autoren von »Who built America?«, des großen Werks über die Volkskämpfe der 1930er Jahre, schrieben: »Obwohl die meisten Amerikaner nicht an den Protestbewegungen teilnahmen, war die zunehmend unübersehbare Unzufriedenheit für viele Beobachter genug Grund für die Sorge, dass die Revolution um die Ecke lauere. Lorena Hickock, ... die im Auftrag der Regierung einen Bericht über die soziale Lage verfassen sollte, schrieb, dass eine riesige Zahl von Arbeitslosen in Pennsylvania ›auf dem Sprung‹ sei ... es fehlt nicht viel, um Kommunisten aus ihnen zu machen.« Diese Entwicklung veranlasste Roosevelt schon im Frühjahr 1930 zu der Ansicht: »Es steht für mich außer Frage, dass das Land mindestens für eine Dekade ziemlich radikal werden muss. Die Geschichte lehrt, dass Nationen, in denen das gelegentlich passiert, Revolutionen erspart bleiben.«

Ist in Europa wirklich keine Rebellion in Sicht? Kein Anlass nirgends für den herrschenden Block, von seiner gegenwärtigen Politik Abstriche zu machen? Oder ist da doch ein Anstoß für Differenzierungs- und Lernprozesse in den europäischen Machteliten, seit die SYRIZA-geführte griechische Regierung mit einem alternativen Projekt auf dem internationalen Parkett erschien und demokratisch legitimiert durch ihre Wählerschaft faire Bedingungen für Korrekturen der griechischen und europäischen Sackgassenpolitik einfordert - so wie Roosevelt einst den Wechsel von einem gescheiterten Weg zu einem besseren vollzog? Ein Anlass für die Machteliten vielleicht doch zu ersten kleinen Abstrichen vom neoliberalen Marktradikalismus, weil ein Ausscheiden Griechenlands aus der Eurozone vor aller Welt deren Unfähigkeit dokumentieren würde, selbst ein so kleines Land - und zudem noch die Wiege europäischer Demokratie - im geeinten Europa zu halten. Ein Anlass, weil dies nicht ohne geostrategische Konsequenzen bliebe. Ein Anlass, weil bei der nächsten Schwäche eines Euro-Landes die Spekulanten auf den Finanzmärkten todsicher auf dessen Fall wetten würden und weil die Währungsunion dadurch destabilisiert würde. Weil die Verluste der Gläubiger Griechenlands, darunter mit 65 Milliarden die Bundesrepublik, dann doch auf die Steuerzahler abgewälzt würden - mit Vertrauensverlusten der Regierungsparteien und mit Gewinn für Rechtspopulisten, Rechtsextreme und Neonazis. Vielleicht ein Anlass für die europäischen Machteliten, Griechenland doch eine Chance für Schritte in Neuland zuzugestehen, weil sonst die Südflanke von NATO und EU ganz und gar außer Kontrolle geraten könnte. Ein Anlass vielleicht, weil Frankreich, Italien und anderer Euro-Länder schon längst zu Abstrichen von der Austeritätspolitik neigen. So dass der EU-Kommissionsvorsitzende Jean-Claude Juncker und andere Spitzenpolitiker aus all diesen Gründen doch nicht ganz auf Wolfgang Schäubles Linie liegen.

Zum ersten Mal seit rund vier Jahrzehnten hat eine linke Partei die Führung einer Regierung in Europa übernommen, die aus alternativen Massenbewegungen hervorgegangen ist und in ihnen weiter ihre Wurzeln hat. Das unterscheidet die griechische Situation prinzipiell von der New-Deal-Politik unter Führung einer Fraktion der kapitalistischen Machtelite. Präsident Roosevelt bedurfte nur der Unterstützung eines Teils seiner eigenen Klasse. Ministerpräsident Alexis Tsipras und sein Finanzminister Yanis Varoufakis brauchen Zugeständnisse und Kompromisse gemäßigter Kräfte des internationalen kapitalistischen Machtblocks trotz des Widerstands jener, die wie »Die Welt« vom 10. März fürchten, »dass die Griechen für ihren permanenten Regelbruch belohnt werden und damit die radikalen Kräfte in ganz Europa Auftrieb erhalten«.

Das pure Dogma des Neoliberalismus schließt jede Chance für die griechische Regierung aus. Die hier angedeuteten Risiken der neoliberalen Logik für Europas Machteliten bergen aber ein Feld der Berührung aufgeklärter Interessen von Teilen der politischen Klasse in Europa und Zeitgewinn für SYRIZAs humanitäres und wirtschaftliches Projekt.

Doch ein Möglichkeitsraum für die SYRIZA-Politik kann nur durch Solidarität vor allem der europäischen Linken erschlossen und erkämpft werden. Um eine größtmögliche Mobilisierung alternativer Kräfte in jedem Land geht es jetzt, an jedem Ort und für jedes Projekt, das Ausbruch aus neoliberalen Denk- und Handlungsweisen und Druck auf die Herrschenden bedeutet.

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