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Fehler als Chance

Wer stets nach Perfektion strebt, überfordert sich zumeist selbst und schadet anderen. Von Martin Koch

  • Martin Koch
  • Lesedauer: 7 Min.

Die meisten Menschen, die einen Fehler machen, ärgern sich hinterher darüber. Denn Fehler sind in unserer Gesellschaft verpönt und gelten als Zeichen mangelnder Qualifikation. Das fängt schon in der Schule an. Wer bei Rechenaufgaben eine falsche Lösung angibt oder beim Schreiben die orthografischen Regeln missachtet, wird entweder getadelt oder erhält eine schlechte Note. Bereits Grundschüler lernen daraus etwas fürs Leben: Fehler sind nichts Gutes. Will man Erfolg haben, sollte man sie besser vermeiden.

Und das versuchen viele dann auch. Sie wollen im Alltag und Beruf möglichst perfekt sein und fehlerlos handeln. Doch ein solches Bemühen ist letztlich illusorisch. Die hochkomplexe Welt, in der wir leben, hält für uns überall Fehlerquellen bereit. Sie alle zu umgehen, ist schlicht unmöglich. Und es ist auch gar nicht wünschenswert. Denn auf dem Weg zur verborgenen Lösung eines Problems fungieren Fehler oft als Wegweiser. Dass dies keine leeren Worte sind, mag das Beispiel eines der größten Erfinder aller Zeiten verdeutlichen. Die Rede ist von Thomas Alva Edison, der lange vergeblich versucht hatte, eine Glühbirne zu konstruieren. Nach zahlreichen Misserfolgen gelang ihm schließlich der große Wurf. »Aus jedem Fehler habe ich etwas gelernt, das ich beim nächsten Versuch berücksichtigen konnte«, erzählte Edison später.

Statt also Fehler krampfhaft zu vermeiden oder sie verschämt zu vertuschen, sollten wir uns eher bemühen, sie im Sinne Edisons als kreative Herausforderung zu begreifen. Damit jetzt keine Missverständnisse aufkommen: Natürlich bergen nicht alle Fehler ein kreatives Potenzial. Manche sind einfach töricht: Einkäufe auf Kaffeefahrten, ohne Gurt Auto fahren, an Wahlversprechen glauben. Aber auch hier lassen sich viele Menschen von Enttäuschungen nicht abschrecken - getreu dem Spruch: »Die Dummen machen stets die gleichen Fehler, die Klugen immer neue.«

Wer von Fehlern spricht, hat in der Regel subjektive Fehler vor Augen, also Fehler, die aus menschlicher Aktivität resultieren: Denkfehler, Entscheidungsfehler, Verhaltensfehler etc. Gleichwohl lehrt uns die moderne Wissenschaft, dass es auch so etwas wie objektive Fehler gibt. Beispiel Chaostheorie. Die besagt, dass das Verhalten komplexer Systeme selbst bei größtem Bemühen nur unzureichend beherrschbar ist. Kleinste Ungenauigkeiten, sprich Messfehler bei der Bestimmung der Anfangszustände solcher Systeme können für deren zeitliche Entwicklung unabsehbare Folgen haben. Chaotische Systeme gibt es in der Welt zuhauf. Deshalb müssen wir wohl oder übel mit einem gewissen Maß an nicht reduzierbarer Unbestimmtheit leben. Oder nehmen wir die Biologie: Ohne »Fehler« in der Evolution, ohne zufällige Abänderungen von hergebrachten organischen Strukturen, gäbe es auf der Erde nicht so unermesslich viele Arten und schon gar keine Menschen. Das heißt: Nur wenn Systeme »fehlerfreundlich« sind, also Abweichungen von der Norm zulassen und in die eigene Dynamik integrieren, sind sie zugleich entwicklungsfähig.

Das gilt natürlich auch für soziale Systeme bzw. Gruppen. Doch nur in den wenigsten Betrieben, Büros, Hochschulen oder Behörden genießen Fehler irgendwelche Wertschätzung. Im Gegenteil. Fehler werden im Berufsalltag zumeist nicht vergeben, sondern bestraft, im schlimmsten Fall mit der Kündigung. Es sei eines der traurigsten Dinge im Leben, meinte George Bernard Shaw, »dass ein Mensch viele gute Taten tun muss, um zu zeigen, dass er tüchtig ist, aber nur einen Fehler zu begehen braucht, um zu beweisen, dass er nichts taugt«.

Tatsächlich werden Fehler gemeinhin als individuelles Versagen gedeutet. Viele Menschen stehen daher im Beruf, aber auch in der Familie unter einem permanenten Perfektionierungsdruck, der sie zwingt, ständig ihre Grenzen zu überschreiten. Sie erschöpfen dadurch nicht nur ihre körperlichen und geistigen Kräfte. Das oft unausweichliche Scheitern löst häufig Selbstzweifel und Minderwertigkeitsgefühle aus, die bis in die Depression führen können.

Eines der prägenden Merkmale einer negativen Fehlerkultur sei die Schuldzuweisung, sagt der Berliner Psychotherapeut Bernd Sprenger: »Seit Menschengedenken ist es offenbar psychologisch für eine Gruppe sehr entlastend, wenn bei einem auftauchenden Problem ein Schuldiger gefunden werden kann. Dieser wird dann aus der Gruppe verstoßen, damit ist das Problem vermeintlich gelöst.« Bei diesem Satz fühlt man sich unwillkürlich an den Absturz des Airbus A320 über den französischen Alpen erinnert. Da eine erste objektive Fehlersuche ohne Ergebnis blieb, wurde das tragische Geschehen personalisiert, und zwar allein aufgrund einer abgehörten Tonaufzeichnung. Schon nach zwei Tagen gab die Staatsanwaltschaft in Marseille bekannt, dass der Copilot der Germanwings-Maschine den Absturz bewusst herbeigeführt habe. Zwar steht eine solche öffentliche Erklärung in Einklang mit dem französischen Recht. Sie widerspricht aber internationalen Richtlinien zur Untersuchung von Unfällen und Störungen in der Zivilluftfahrt. Danach soll die Fehlersuche stets dem Gewinn von Erkenntnissen dienen, die geeignet sind, künftige Unfälle oder Störungen zu verhüten. Die Frage der Schuld wird, sofern sich keine anderen Anhaltspunkte ergeben, erst am Ende der Untersuchung thematisiert.

Im Grunde wäre dies ein Modell auch für andere Bereiche unserer Gesellschaft, insbesondere für den Medizinbetrieb. Hier stehen Fehler in einem denkbar schlechten Ruf. Denn ein aktenkundig gewordener »Kunstfehler« eines Arztes kann leicht dessen Karriere ruinieren und horrende Schadenersatzforderungen nach sich ziehen. Deshalb werden Diagnose- und Therapiefehler, die ohne gravierende Folgen bleiben, in der Regel verschwiegen und nicht zum Nutzen künftiger Patienten ausgewertet.

Was den souveränen Umgang mit Fehlern zusätzlich erschwert, ist die in vielen Unternehmen, Behörden und Kliniken herrschende Hierarchie. »Je autoritärer die Hierarchieunterschiede vertreten werden, desto schwieriger wird das angstfreie Offenlegen von Fehlern«, sagt Jan Hagen von der European School of Management and Technology in Berlin. Um die Hierarchien abzuflachen, wurde beispielsweise bei der Lufthansa unter allen Mitarbeitern an Bord das »Du« eingeführt. Ob das genügt? Und im Operationssaal dürfte dergleichen noch schwieriger werden. Denn, so Hagen: »Das Statusgefälle zwischen Chefarzt und Krankenschwester ist noch steiler als zwischen Flugkapitän und Flugbegleiter. Doch auch eine Krankenschwester muss sich trauen dürfen, den Arzt auf einen Fehler hinzuweisen.«

Wenn überhaupt, dann wird solcherart Kritik nur hinter vorgehaltener Hand geäußert. Denn in ihrer Selbstherrlichkeit halten sich viele Chef- und Oberärzte für unfehlbar. Allein die Andeutung, sie könnten wie jeder andere Mensch Fehler machen, klingt in ihren Ohren wie Gotteslästerung. Nicht ganz so extrem, aber zumindest ähnlich gestaltet sich die hierarchische Kommunikation in anderen Unternehmen, auch hier häufig mit verheerenden Konsequenzen. »Denken Sie nur an das Planungschaos am Flughafen Berlin Brandenburg«, sagt Hagen. »Da hätten im Lauf der Zeit viele Beteiligte die Ampel auf Rot stellen können. Aber offenbar hatten alle Sorge, Ärger mit der nächsthöheren Ebene zu bekommen. Deshalb haben sie nur auf Gelb gestellt und gedacht, die Botschaft kommt schon bei den Chefs an.« Kam sie aber nicht, und so wurde von oben nach unten immer weiter gepfuscht.

Nicht nur dieses Beispiel zeigt, dass der betriebsinterne Umgang mit Fehlern längst zu einem wirtschaftlichen Wettbewerbsfaktor geworden ist. Denn wenn die Beschäftigten eines Unternehmens Angst haben, Fehler zu machen, halten sie vorsorglich an bewährten Strategien fest und zeigen wenig Bereitschaft, Neues zu wagen. Ein innovationsförderndes Klima entsteht eher dort, wo der Chef seine Mitarbeiter ermutigt, Fehler als notwendige Vorstufen zur effektiven Lösung eines Problems einzukalkulieren. Vielleicht liegt darin eines der Geheimnisse, warum neu gegründete Unternehmen und Institute in den USA oft eine größere Dynamik entfalten als in Deutschland. Wer hierzulande mit einem Startup-Unternehmen scheitert, ist gebrandmarkt. Er gilt als Versager und erhält in der Regel keine neue Chance. In den USA hingegen wird ein zweiter Versuch durch die traditionelle Pioniermentalität begünstigt, vorausgesetzt natürlich, dass die zu verwirklichende Idee Erfolg versprechend scheint.

Das letzte Wort zum Thema Fehlerkultur sei dem kanadischen Psychologen Laurence J. Peter überlassen. In gut dialektischer Manier kleidete der Erfinder des sogenannten Peter-Prinzips seine Wertschätzung des Fehlers in folgenden trefflichen Satz: »Wer Fehler vermeiden will, muss Erfahrungen sammeln, und Erfahrungen sammelt man, indem man Fehler macht.«

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