Ficken ohne Reue

Oliver Schott über Monogamie und Polyamorie

  • Oliver Schott
  • Lesedauer: 6 Min.
Die Monogamie sollte ausgedient haben, denn Polyamorie schafft mehr Vertrauen. Oliver Schott erklärt, warum die sexuelle Freiheit jedes Einzelnen die Bedingung der sexuellen Freiheit aller ist.

Freie Liebe«, Polyamorie, »Beziehungsanarchie«: Seit einiger Zeit hat die Diskussion über nichtmonogame Beziehungsformen eine Wiederbelebung erfahren. Was vor Jahrzehnten unter dem Namen der »freien Liebe« aus der Mode gekommen war, lässt sich zeitgemäß verpackt wieder vermarkten unter dem Begriff Polyamorie. Darunter ist die gleichberechtigte, auf Ehrlichkeit und Einverständnis aller Beteiligten basierende Liebe zu mehreren Personen zu verstehen. Eine etwas radikalere Variante stellt die Beziehungsanarchie (relationship anarchy) dar, die auf vorgefertigte Beziehungsmodelle ganz verzichten und jedes zwischenmenschliche Verhältnis individuell gestalten will, auf der Grundlage wechselseitigen Einverständnisses.

In der Linken werden solche Konzepte zwiespältig aufgenommen. Alle berechtigte Kritik an der Wahlverwandtschaft gewisser Formen der Polyamorie mit dem neoliberalen Zeitgeist rechtfertigt aber nicht, ex negativo den Status quo serieller Monogamie zu verteidigen, der den neoliberalen Zeitgeist auch nur um die überkommene Verklemmtheit und Verlogenheit des patriarchalen Bürgertums bereichert. Wer gegen Polyamorie polemisiert, über die etablierte gesellschaftliche Norm der Monogamie aber vornehm schweigt, folgt nicht dem Ziel eines freien menschlichen Zusammenlebens, sondern verteidigt das althergebrachte Ressentiment der Mehrheit gegen ein moderneres, minoritäres.

Immanuel Kant mit seiner unbestechlichen Sachlichkeit charakterisiert Monogamie als die »Verbindung zweier Personen verschiedenen Geschlechts zum lebenswierigen wechselseitigen Besitz ihrer Geschlechtseigenschaften«. Auch wenn man die Forderung der Heterosexualität und der »Lebenswierigkeit« (das ganze Leben während, lebenslang) fallen lässt, bleibt zu fragen, ob Besitz, und sei es auch wechselseitiger, die Kategorie ist, auf deren Grundlage man zwischenmenschliche Beziehungen aufbauen sollte. Stattdessen müsste von wechselseitigem Respekt für die Freiheit des anderen die Rede sein. Der vollendeten bürgerlichen Moral gilt die sexuelle Selbstbestimmung als ein unveräußerliches Menschenrecht. Legt man einmal die Selbstverständlichkeit gewordene Gewohnheit ab, so führt kein Weg an der Tatsache vorbei, dass Monogamie einen ganz erheblichen, wenn auch im günstigsten Fall einvernehmlichen Eingriff in diese Freiheit darstellt und deshalb allemal zu fragen ist, warum dieser Eingriff wünschenswert sein soll.

Weil wir in einer Zeit leben, in der bürgerliche Werte wie auch das bürgerliche Subjekt nur noch in Verfallsformen existieren, verbleibt die Debatte meist unterhalb eines solchen Reflexionsniveaus. Wer sich persönlich zu monogamen oder nichtmonogamen Beziehungsformen bekennt, tut dies intuitiv meist hinsichtlich eines beschränkten Begriffs von Eigeninteresse und unterstellt eine solche Perspektive auch bei anderen. Die Frage lautet dann, was einem unbequemer ist: die mit der Monogamie einhergehenden Einschränkungen oder die Mühe, sich über die etablierte Norm und die eigene Gewohnheit hinwegzusetzen? Zahlt sich die zusätzliche emotionale und kommunikative Arbeit aus, die ich in eine unkonventionelle Beziehungsform stecken muss? Da Eifersucht und Exklusivitätsansprüche im sexuellen Rollenverständnis der meisten eine wesentliche Rolle spielen, lautet die vielleicht häufigste Haltung zu offenen oder polyamoren Beziehungen in etwa so: »Zugegeben, selbst diese Freiheit zu haben, wäre nicht schlecht, aber meinem Partner könnte ich sie nicht zugestehen.« Zugleich wird Menschen, die sich für nichtmonogame Beziehungen entscheiden, spontan Egoismus unterstellt. Entweder, so wird räsoniert, müsse eine solche Beziehung auf der Übervorteilung eines Partners beruhen, der aus emotionaler Abhängigkeit auf die Wahrnehmung der eigenen Freiheiten verzichtet; oder aber es könne sich gar nicht um eine ernsthafte Beziehung handeln, sondern nur um eine unverbindliche Affäre. Beides kommt natürlich auch vor. Doch Übervorteilung und Unverbindlichkeit gibt es auch unter Monogamisten zur Genüge.

Vor allem aber ist der atomistische Egoismus zu kritisieren, der auch da noch in Begriffen individuellen Eigeninteresses denkt, wo es gerade darum ginge, die Vereinzelung zugunsten von Gemeinschaft zu überwinden und die Beziehung zum anderen nicht nur als Instrument zum eigenen Lebensglück zu betrachten, sondern als ein Verhältnis, das zu einem gemeinsamen Lebensglück gerade deshalb beitragen kann, weil es nicht nur als Mittel, sondern selbst als Zweck, und zwar geteilter Zweck angesehen wird. Die Aufgabe linker, emanzipatorischer Kritik an der üblichen seriellen Monogamie wie auch der mehr oder weniger von Neoliberalismus angekränkelten Polyamorie bestünde darin, eine solche wirklich soziale Perspektive zu verteidigen gegen das instrumentelle Denken, welches den Horizont des atomisierten Individuums nicht mehr zu transzendieren vermag.

Das Problem an der Monogamie ist weniger, dass sie mir zumutet, auf einen Teil meiner Freiheit zu verzichten. Solcherlei Zumutungen, darin haben die Apologeten der Monogamie recht, sind gang und gäbe und, wo sie sachlich gerechtfertigt sind, unverzichtbar für jede zwischenmenschliche Beziehung. Fragwürdig ist es vielmehr, dem anderen einen solchen Verzicht abzuverlangen, wo - nüchtern betrachtet - nichts außer persönlicher Eitelkeit ihn erforderlich macht und nichts außer einer verleugneten Anhaftung ans Sexualtabu, nichts als Lustfeindlichkeit ihn rechtfertigt.

Monogamisten berufen sich gern auf Intimität und Vertrauen. Doch nur persönliche Minderwertigkeitskomplexe und die verdrängte Stigmatisierung der Promiskuität lassen sexuelle und emotionale Exklusivität als Voraussetzung von Intimität und Vertrauen erscheinen. Treue schaffe Intimität, sagen Monogamisten. Doch die ohnehin fragwürdige Intimität, die nicht etwa aus der positiven Qualität einer Beziehung, sondern aus der Einschränkung aller anderen Beziehungen resultiert, verliert vollends ihren Sinn in Zeiten serieller Monogamie, wo doch beide Liebenden meist schon zahlreiche Sexualpartner hatten und sich auch in dem Wissen verbinden, dass sie trotz ihres Treueversprechens im Ernstfall weder vom Fremdgehen oder dem Partnerwechsel abgehalten werden können. Treue schaffe Vertrauen, sagen die Monogamisten. Doch sie wissen nicht, wie sich Vertrauen in nichtmonogamen Beziehungen entwickelt. Die Freude über eine schöne Affäre ohne Angst vor Missgunst mit dem Partner teilen zu können; die Erfahrung, dass keiner sich deshalb vom anderen abwendet, dass die Liebe dadurch um nichts vermindert, sondern eher noch bekräftigt wird; das kann mehr Vertrauen und Intimität schaffen, als sich diese Affäre in einem völlig unsinnigen Liebesbeweis zu versagen. Geliebt zu werden ohne den Vorbehalt, die Fähigkeit zu lust- und liebevollen Erfahrungen mit Dritten zu verleugnen; dem anderen auch diese Freiheit noch wohlwollend zu überlassen, sich für die Lust und das Glück des anderen auch hier noch zu freuen - das untergräbt Intimität und Vertrauen nicht, sondern schafft sie.

Wer nicht die Neigung oder auch nicht die Zeit und die emotionalen Kapazitäten hat, um mehrere intime oder sexuelle Beziehungen gleichzeitig zu unterhalten, soll es selbstverständlich lassen; auch so wird Selbstbestimmung ausgeübt. Doch die Freiheit des anderen vorbehaltlos anzuerkennen, heißt auch, diesen auch dann zu bestärken und zu unterstützen, wenn er eben einmal zu einer anderen Entscheidung kommt, die etwa zu sexuellen Handlungen oder emotionalen Verbindungen mit Dritten führt. Sollte es mir nicht ein Anliegen sein, dass mein Liebespartner möglichst wenig Hemmungen habe, diese Freiheit auch positiv in Anspruch zu nehmen, wenn er es eben will? Dass sein Leben möglichst reich sei, sowohl was zwischenmenschliche Beziehungen angeht als auch hinsichtlich sinnlicher Freuden? Sollte es mir nicht Anliegen sein, dass die Beziehung zu mir für den anderen möglichst viel Bereicherung und möglichst wenig Einschränkung bedeute?

Der Liebesbegriff der meisten Menschen ist ein spezifisch monogamer und mit derlei Gedanken völlig inkompatibel, doch ist die Haltung, von der ich rede, nicht ganz so exotisch und schwer nachzuvollziehen, wie es manchen von ihnen scheinen mag. Denn im Umgang mit Freundschaften sind wir es gewohnt, auch intime, verbindliche und bedeutungsvolle Beziehungen ohne Exklusivitätsansprüche zu führen. So wie in Freundschaften auch kann es in nichtmonogamen Beziehungen zu Eifersüchteleien kommen, aber genauso wie in Freundschaften sollte man Eifersucht nicht zur Tugend und zum Liebesbeweis umlügen, sondern rücksichtsvoll und selbstkritisch damit umgehen. Auch unseren Geliebten sollten wir Freunde sein und sie nicht schlechter als Freunde behandeln.

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