»Merkel will den Prozess, Schäuble die Entscheidung«

Jorgo Chatzimarkakis über Mentalitäten in der Krisenpolitik, die Falken der Europäischen Zentralbank und die Geschichte einer Euromünze

  • Lesedauer: 10 Min.

nd: Herr Chatzimarkakis, ein ehemalige FDP-Politiker als Sonderbotschafter einer Regierung, die von einer Linkspartei angeführt wird - das müssen Sie uns erklären.
Jorgo Chatzimarkakis: Das Amt habe ich noch unter der Vorgänger-Regierung von Außenminister Evangelos Venizelos übertragen bekommen. Es war für mich aber kein Problem, mich auch für die Belange der SYRIZA-Regierung in Deutschland und Europa einzusetzen.

Warum nicht?
Nach dem Ausbruch der Griechenland-Krise bin ich zunehmend pragmatischer und realistischer geworden. Im Europaparlament habe ich in Fragen, die die Krisenpolitik betreffen, nicht immer mit den Liberalen gestimmt. Am Ende meines zweiten Abgeordnetenmandats habe ich sogar immer mit der Linksfraktion GUE/NGL gestimmt.

Ein Liberaler stimmt mit der Linken?
Ich konnte mich im Europaparlament nicht in alle Dossiers der Sozialpolitik einarbeiten und wollte zugleich der Mehrheit der Etablierten nicht vertrauen. Mehr noch: Ich konnte ihnen nicht vertrauen, weil ich die reale Situation in Griechenland gesehen hatte. Das wachsende Elend, die Folgen einer Politik, die eben nicht zu neuem Wirtschaftswachstum und einer Verbesserung der humanitären Lage führte. Es wurde ja immer schlimmer.

Sie hätten doch zu SYRIZA wechseln können.
Ich habe mich in Griechenland nicht der Linkspartei angeschlossen, sondern eine eigene Partei gegründet. Die berief sich stärker auf antike griechische Werte als auf linke Ideologie. Aber was die konkreten Forderungen angeht, gibt es große Überschneidungen. Ich würde sagen, in 80 Prozent aller Fragen gibt es Gemeinsamkeiten. Also war es auch kein Problem, nach dem Wahlsieg von SYRIZA als Sonderbotschafter weiterzumachen. Im Gegenteil.

Warum hören Sie Anfang Mai dann schon wieder auf?
Es war von Anfang an so vereinbart. Mein Job sollte zeitlich begrenzt sein - und einen Beitrag dazu leisten, den Ausstieg Griechenlands aus dem so genannten Memorandum sanft zu gestalten. Durch die Neuwahlen und den Antritt der SYRIZA-Regierung ist dies nun schwieriger geworden. Aber je holpriger es wird, desto mehr braucht man vielleicht auch Interpreten, Erklärer.

Was können sie erklären?
Vor allem die kulturellen Unterschiede. Hier liegt meines Erachtens ein wesentlicher Grund für die Konflikte um die Krisenpolitik und um die Auszahlung aus dem laufenden Kreditprogramm. Viele Deutsche verstehen die Griechen nicht, verstehen ihr politisches System und die darin verankerte Mentalität nicht. Und Griechen verstehen auch die Deutschen nicht.

Warum ist das so?
Der Unterschied ist sehr groß. Die Politik in Griechenland ist levantisch geprägt, hat also seine kulturellen Wurzeln im östlichen Mittelmeer. Man kennt zum Beispiel andere Zeitkategorien: Eine Frist ist in Deutschland eine Frist - aber nicht in Griechenland. Was die Griechen vor allem interessiert, ist der Prozess, ist nicht die einzelne punktuelle Vereinbarung, sondern etwas in Bewegung zu setzen. Diesen Prozess gibt es ja: Verhandlungen, Gespräche, immer neue Treffen. Und das ist das, was die griechische Seite will. Die deutsche Seite will eigentlich Ergebnisse.

Der Konflikt um die Krisenpolitik basiert aber doch nicht bloß auf einer kulturellen Differenz. Sondern auf handfesten Interessen, auf unterschiedlichen makroökonomischen und politischen Vorstellungen.
Das ist richtig. Aber die Konfrontation, die durch die Einseitigkeit der Medien sicher noch verstärkt wird, lässt sich ohne diese kulturellen, mentalitätsgeschichtlichen Hintergründe nicht verstehen. Wenn man sich mit Gesprächspartnern unterhält, die Blau für Grün halten, dann wird man sich am Ende nicht auf eine Farbe einigen können. Es geht in dem Konflikt zwischen deutscher Politik und dem Ansatz in Athen eben auch um ein Riesenmissverständnis. Und was ich schade finde: Dass aufgrund dieses Missverständnisses eine große Chance in Gefahr gerät, nämlich den Wahlsieg von SYRIZA und die Neuverhandlungen über das Kreditprogramm für eine Änderung der europäischen Krisenpolitik insgesamt zu nutzen.

Was denken Sie, warum ist man in Berlin so kompromisslos, obgleich doch viele Experten sagen, ein nur auf Austerität setzender Kurs ist falsch. Und die Zahlen über die soziale Lage und die wirtschaftliche Situation in Griechenland das ja auch belegen.
Ich kann nur davor warnen, die Positionen der jeweiligen Regierungen durch ein grobes Raster zu betrachten. Wenn ich genau hinschaue, entdecke ich deutliche Unterschiede etwa zwischen dem Agieren der Bundeskanzlerin und dem des deutschen Finanzministers. Angela Merkel hat schon im Sommer 2012 im Juni während eines Besuches einer Seniorengruppe gesagt: »Mein Herz blutet für die griechischen Rentner.« Ich glaube ihr das, es zeigt sich auch atmosphärisch, zuletzt beim Besuch von Ministerpräsident Alexis Tsipras in Berlin. Man könnte sagen, Merkel ist letztendlich auf den griechischen Modus eingeschwenkt, in dem der Prozess im Vordergrund steht. Nicht die Frist.

Aber Berlin drängt am vehementesten darauf, dass Griechenland abermals Maßnahmen und so genannte Reformen akzeptiert, die zu beenden die neue Regierung in Athen ja gewählt wurde.
Diese Tonlage kommt vor allem aus dem Finanzministerium. Ich will auch nicht sagen, dass Merkel eine andere Krisenpolitik anstrebt. Aber es deutet sich doch unter ihrer Führung eher ein Muddling Through an, ein politisches Durchwurschteln, eben: ein Prozess. Und keine abrupten Entscheidungen. Einmal davon abgesehen, dass in Europa und auch in Deutschland niemand für den Dolchstoß gegen Griechenland verantwortlich sein will.

Ein Grexit, ein Ausscheiden Griechenlands aus der Eurozone, schließen Sie aus?
SYRIZA will im Euro bleiben. Die übergroße Mehrheit der Griechen will das. Und es ist möglich, wenn man der Regierung in Athen den Spielraum gibt, einen eigenen Beitrag dazu zu leisten. Wenn mir jemand mit dem Grexit kommt, dann frage ich zurück: Was wollt ihr denn, wenn Griechenland nicht austreten möchte? Was macht ihr denn dann? Und die wissen darauf keine Antwort.

Das Gerede und die Spekulationen über einen Grexit haben aber eher zu- als abgenommen.
Man muss genau hinschauen, woher diese Töne kommen. In der Europäischen Zentralbank und im Bundesfinanzministerium wird anders gedacht als in der Europäischen Kommission. Es gibt sehr viele Linien, die gegeneinander kämpfen. Es gibt die »Falken« in der Europäischen Zentralbank, die als kleine Gruppe großen Einfluss haben, eine Gruppe, die sehr stark von der Bundesbank beeinflusst wird. Es gibt ein Lager um Kommissionschef Jean-Claude Juncker, der auf ein Europa des Wachstums unter neo-keynesianischen Vorzeichen setzt. Und es gibt auch Unterstützer für die Sicht von Griechenlands Finanzminister Yanis Varoufakis.

Der hierzulande gern als Halbstarker diffamiert wird.
Varoufakis hat eine Reihe von Vorschlägen unterbreitet, die man neo-pragmatisch nennen könnte. Es geht dabei zum Teil ganz direkt um die Lösung der Eurokrise, zum Teil geht es um eine Strategie gegen die europäische Investitionskrise und die soziale Schieflage. Dabei sollen die EZB, die Europäische Investitionsbank und der Europäische Investitionsfonds eine neue, größere Rolle spielen. Varoufakis hat das zum Beispiel auf einer Wirtschaftskonferenz im italienischen Como vorgetragen. Ihm ist dann vorgeworfen worden, er treibe sich auf Konferenzen herum, statt bei wichtigen Verhandlungen in Athen zu sein. Darüber, was er vorgeschlagen hat, wurde überhaupt nicht gesprochen. Zum Beispiel, dass die Europäische Investitionsbank genau das Instrumentarium hat, um soziale Projekte mit nachhaltiger Wirkung anzustoßen.

Ist Varoufakis zu sehr Theoretiker? Er kommt ja aus der Wissenschaft.
Natürlich ist er auch ein Theoretiker, aber einer, der die Dinge in die Praxis umsetzen will. Man gibt ihm aber nicht die Chance dazu. Und ein bisschen hat er sich wohl auch selbst um die Chance gebracht. Die Politik und die Öffentlichkeit in Deutschland waren auf eine Figur wie ihn, auf seine Art nicht vorbereitet. Ich bin nicht immer seiner Ansicht, aber im Grunde versammelt sich in seiner Haltung das, was für Griechenland und Europa jetzt nötig ist: eine Änderung des grundlegenden Ansatzes von Wirtschafts- und Währungspolitik.

Es steht auf dem Spiel der Euro, es steht auf dem Spiel eine europäische Idee, es steht aber auch auf dem Spiel eine Politik, für die SYRIZA ein Mandat hat, nämlich eine Politik der sozialen und wirtschaftlichen Erneuerung.
Das ist ein ganz wichtiger Hinweis, den man immer wieder hört, auch unter vorgehaltener Hand: Wir müssen hier ein Exempel statuieren, damit Podemos in Spanien oder die linke Bewegung in Portugal keine Chance bekommen. Italien glaubt man eher im Griff zu haben. Es wird also natürlich auch versucht, klare Linien zu ziehen gegen SYRIZA. Und all das nur, um ideologisch zu gewinnen. Aber mit welchen Folgen! Viele Familien hängen schon jetzt an der Rente der Oma - und selbst die soll gekürzt werden. Es ist ein Wahnsinn, der sich da abzeichnet. Die Griechen sehen es fatalistisch und viele Europäer gucken weg.

Sie sprechen von Fatalismus - ist mit SYRIZA nicht auch ein Aufbruch in der griechischen Gesellschaft verbunden?
Ich war unlängst in meinem Dorf auf Kreta tanken und der Tankwart hat gesagt: Also ich habe SYRIZA nicht gewählt, aber ich würde sie jetzt wählen. Ich hab ihn gefragt: Warum? Darauf er: Na, die machen wenigstens was! Ich frage zurück: Was machen sie denn? Und er: Die wehren sich wenigstens. Das ist der Aufbruch.

Wie lange kann Athen noch Nein sagen? Die griechische Regierung zahlt alle Verpflichtungen, kratzt das letzte Geld zusammen - aber die Gläubiger überweisen nichts mehr.
Es ist schwer zu sagen. Selbst in den Jahren der Troika in Griechenland wusste man ja nie, wie viel Geld wirklich in der Kasse ist. Das ist aber nicht nur in Griechenland so, weil die Haushaltslage auch von kurzfristigen Faktoren abhängt, den Steuereinnahmen, der Konjunktur. Im Sommer stehen mehrere große Rückzahlungen von Krediten in Milliardenhöhe an. Wenn es bis dahin keine Einigung gibt, hat nicht nur Athen ein Problem, sondern Europa. Deshalb ärgere ich mich auch so über das Bullying der griechischen Regierung, dieses Mobbing. Es ist überflüssig und dient nur dazu, Politiker zu demütigen und zu desavouieren, um am Ende einen Vorwand zu haben: So, jetzt reicht es.

Die Verhandlungen zwischen Athen und Brüssel drehen sich bisher um das zweite Kreditprogramm, um die blockierten Auszahlungen, um die im Gegenzug abverlangte Liste mit so genannten Reformen. Viel entscheidender wird aber sein, was ab Juni passiert. Kommt ein drittes Kreditprogramm, oder ein New Deal? Oder eine Parallelwährung?
Der Juni ist nicht mehr weit weg. Im Grunde müssten sich längst alle klugen Köpfe darüber Gedanken machen, müsste die Debatte über eine andere Krisenpolitik längst im Zentrum stehen. Stattdessen reden wir über Zensuren für eine 25-seitige Liste mit kleinteiligen Reformen. Wir verlieren vor lauter Bäumen den Wald aus den Augen.

Wie könnte der Wald ihrer Meinung nach aussehen?
Ein drittes Hilfspaket würde nur die Wahnsinnspolitik fortsetzen, die sich als gescheitert herausgestellt hat. Man braucht also etwas Neues. Ich habe schon 2010 von einem »Herkules-Plan« gesprochen - ein Entwicklungsplan für ein EU-Land. Wir haben in Griechenland keine produktive, industrielle Basis. Auch die Infrastruktur ist inzwischen mangelhaft. Uns bleibt derzeit der Tourismus. Hier kann man ansetzen, wenn man mutiger denkt: Griechenland könnte auf Seniorendienstleistungen und die Gesundheitsbranche setzen. Wir könnten sozusagen das Florida Europas werden, mit einer starken Silver Economy. Wir haben auch das Potenzial, zum Kalifornien Europas zu werden, weil wir viele kluge Köpfe haben und ein gutes Bildungssystem. Wir brauchen eine Aufbau- und Entwicklungskonferenz, bei der so etwas mit den europäischen Partnern ernsthaft besprochen wird. Was wir nicht brauchen ist die Fortsetzung der bisher verfolgten Krisenpolitik.

Was machen Sie denn nach dem 5. Mai?
Ich arbeite an mehreren Projekten, unter anderem »Sekt aus Kreta«. Ich muss nur noch den richtigen Säuregrad finden. Ich hätte es früher anfangen müssen, aber die Politik hat mir einfach keine Zeit dazu gelassen.

Ist das dann ein endgültiger Abschied aus der Politik?
Nein. Erstens muss man Geduld haben in der Politik. Und zweitens gibt es noch viel zu tun, und es wird sich zeigen, welchen Beitrag ich dazu leisten kann. Erst einmal beende ich jetzt mein Buch. Es ist »Das Tagebuch eines griechischen Euro«, die politische Geschichte einer Münze, die in Chalandri in Athen gestanzt wurde. Am Ende wird sich Yanis Varoufakis die Frage stellen, bleiben wir im Euro? Und er wird diese Münze werfen.

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