Gedenken mit »Betroffenheitskitsch«

Niedersächsische Stiftung kritisiert Gestaltung von Feiern zum Kriegsende

  • Hagen Jung
  • Lesedauer: 3 Min.

Die Sirenen sind verstummt, die ersten Nächte ohne Angst vor Bomben angebrochen, ausländische Soldaten werden als Befreier vom Nazi-Terror begrüßt, in den Städten ebenso wie hinter den Toren der Konzentrationslager: Frühjahr 1945 in Deutschland. In diesen Wochen finden hierzu viele Gedenkveranstaltungen statt. Nicht selten gebe es dabei allerdings nicht mehr als einen »Kult der Erinnerung, ohne nachzudenken«, meint Jens-Christian Wagner, Geschäftsführer der Stiftung niedersächsische Gedenkstätten. Sie betreut unter anderem das ehemalige KZ Bergen-Belsen in Niedersachsen, wo zwischen 1941 und 1945 über 70 000 Menschen zu Tode kamen.

Viele Gedenkfeiern förderten nur noch »Betroffenheitskitsch«, bedauert Wagner. »Bei dem ganzen Hype um den 70. Jahrestag des Kriegsendes findet eine wirkliche Auseinandersetzung mit dem damaligen Geschehen zu wenig statt«, resümiert er im Gespräch mit »nd«. Gedenken mache nur dann Sinn, wenn es vom Wissen um das einstige Geschehen gestützt wird. Auch dürfe dabei der Aktualitätsbezug nicht außer Acht gelassen werden, mahnt Wagner - und blickt nach Tröglitz, jenem Ort in Sachsen-Anhalt, wo die NPD Proteste gegen ein Flüchtlingsheim anstachelte, gegen ein Haus, das am Osterwochenende vermutlich von Nazis in Brand gesetzt wurde.

Besonders kritisch betrachtet Wagner den Umgang mit Überlebenden der Nazigräuel bei Gedenkveranstaltungen. Er habe bei solchen Anlässen mehrmals die Erfahrung gemacht, dass die Betroffenen nicht zu Wort kommen und »nur als schmückendes Beiwerk vorgeführt« werden, während allein Politiker am Rednerpult stehen. Das sei ein »Streichelzoo mit Überlebenden«. Grundsätzlich, so Wagner, sei gegen politische Ansprachen aber nichts einzuwenden. »Die Überlebenden schätzen es durchaus, wenn sich hohe Repräsentanten zu Wort melden.« Denn das sei eine »Würdigung des Leidens, die in vielen Fällen über Jahrzehnte unterblieben ist«.

Erinnern und Gedenken sollen jetzt bei Veranstaltungen in Bergen-Belsen angemessen umgesetzt werden. Das KZ in der Lüneburger Heide, in dem auch die durch ihr Tagebuch bekannt gewordene Jüdin Anne Frank ihr Leben verlor, war Mitte April 1945 durch britische Truppen befreit worden. Sie fanden neben unzähligen Leichen etwa 60 000 bis zum Skelett abgemagerte Überlebende vor. Rund 14 000 von ihnen verstarben trotz ärztlicher Bemühungen.

Im Mittelpunkt des Gedenkens steht eine Feier am Sonntag. Mehr als 100 Überlebende aus vielen Teilen der Welt haben ihr Erscheinen angekündigt, sechs von ihnen werden berichten, was sie in Bergen-Belsen erdulden mussten. Auf der Rednerliste stehen neben Bundespräsident Joachim Gauck der Präsident des Jüdischen Weltkongresses, Ronald S. Lauder, der Präsident des Zentralrats der Juden in Deutschland, Josef Schuster, sowie Romani Rose, Vorsitzender des Zentralrats der Sinti und Roma. Die Feier ist öffentlich, sie beginnt um 11 Uhr in der Gedenkstätte Bergen-Belsen.

Podiumsdiskussionen, eine Ausstellung, eine internationale Jugendbegegnung und ein Konzert zählen zum dreitägigen Gedenkprogramm, das am Freitag beginnt. Eine Übersicht zu den öffentlichen Veranstaltungen gibt es im Internet unter www.bergen-belsen.de.

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