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Uganda: Wurzeln schlagen im Ausnahmezustand
Eine Gruppe Frauen schafft in Uganda, was kaum möglich scheint: ein selbstbestimmtes Leben in einer Flüchtlingssiedlung
Alles ist ocker – der Boden, die Wände, selbst die Luft. In Kyaka II verschmelzen die Häuser mit der Erde, aus der sie gebaut wurden. Nur die Schilder verraten, dass dies kein gewöhnliches Dorf ist, sondern eine Flüchtlingssiedlung. Fast ein Dutzend Metalltafeln drängen sich am Straßenrand, jede mit dem Namen einer Organisation, die helfen will. Schwül und trocken ist es in dieser abgelegenen Gegend im Westen Ugandas.
Hinter einem dieser Häuser, in der Byabakora-Zone, warten sie schon gespannt – 27 Frauen, fast alle aus der Demokratischen Republik Kongo. Eine stammt aus Burundi, eine weitere aus der ugandischen Nachbarschaft. So viele sind gekommen, dass die Stühle nicht ausreichen. Sie sitzen auf Matten, lachen, rücken zusammen. »Gemeinschaft heilt«, sagt eine. Für einen Moment scheint es, als wäre dies kein Ort der Flucht.
Seit vier Jahren führen diese Frauen gemeinsam ein Unternehmen. Alles begann mit einem Sack Maniokmehl – in Uganda Cassava genannt. Inzwischen betreiben sie als Kollektiv zwei Verkaufsstände für Cassava-Produkte, eine Metzgerei, einen Filmverleih – und vielleicht bald sogar einen Kopierladen. All diese Projekte entstanden innerhalb der Siedlung. Als Startkapital erhielten sie 1,95 Millionen Uganda-Schilling – umgerechnet etwa 470 Euro. Bis heute haben sie mehr als acht Millionen Schilling (knapp 2000 Euro) in ihre kleinen Geschäfte investiert, die über das gesamte Siedlungsgebiet verteilt sind. Zusätzlich legen sie regelmäßig Geld für das Kollektiv zurück – für Schulgeld oder für Krankheitsfälle.
Ihr Geschäftsmodell erinnert an eine alte Utopie: Jede verkauft für alle, Gewinne werden geteilt, Entscheidungen gemeinsam getroffen. »Wir vertrauen uns«, sagt eine der Frauen – die Lebhafteste der Gruppe. Die meisten leben allein, mit oder ohne Kinder – und sie tun es gern. In ihrer Gemeinschaft haben sie etwas gefunden, das lange fehlte: Unabhängigkeit, gegenseitige Unterstützung und ein Leben, das auch ohne Männer trägt.
Hinter der Stärke dieser Frauen verbirgt sich eine Realität, die weit weniger hoffnungsvoll ist, als sie auf den ersten Blick erscheint: Uganda wird international für seine progressive Flüchtlingspolitik gelobt – weil Geflüchtete arbeiten dürfen, sich frei bewegen und Land bewirtschaften können. Doch in der Praxis bleibt kaum jemandem der Weg aus den Siedlungen offen.
Eine Siedlung wie ein Käfig
Kyaka II ist eines von mehreren sogenannten »Refugee Settlements«, Siedlungen für Geflüchtete. Uganda rangiert auf Platz fünf der internationalen Rangliste der Aufnahmeländer, direkt hinter Deutschland. Kein afrikanisches Land nimmt so viele Geflüchtete auf wie Uganda.
Doch wer hier lebt, weiß, dass Offenheit Grenzen hat. Die 2005 gegründete Siedlung ist keine Zeltstadt, sondern ein Flickenteppich aus Dörfern, Feldern und staubigen Wegen – eigentlich ein Zuhause auf Zeit, doch viele bleiben dauerhaft. Heute leben hier mehr als 130 000 Menschen, die meisten aus dem Kongo. Sie flohen vor einem Krieg, der im Osten ihres Landes nie geendet hat.
Seit Jahresbeginn, sagt UNHCR-Vertreter Matthew Crentsil, hätten die Ankunftszentren sechsmal mehr Menschen aufgenommen, als sie bewältigen könnten. »Das ist ziemlich ernst«, warnt er. Wenn kein neues Geld fließt, könnten die Menschen »an den Rand einer Katastrophe geraten«. Seit Monaten kommen täglich rund 600 neue Geflüchtete, vor allem aus dem Kongo und dem Südsudan.
Die Parzellen sind klein – 50 mal 30 Meter für Haushalte mit weniger als drei Personen. Das Land reicht längst nicht mehr für alle. So progressiv Ugandas Migrationspolitik auch wirkt, sie kann das strukturelle Problem nicht lösen: Die meisten Geflüchteten bleiben in den Siedlungen isoliert. Das Frauenkollektiv versucht, das Beste aus der Situation zu machen.
So auch Victoria Vaweka, die einen Filmverleih betreibt. Ein kleines Holzhaus zwischen zwei Wellblechhütten, im Hintergrund brummt leise ein Aggregat. »Hier kann man Filme aus Indien, Südkorea oder China auf USB-Sticks laden«, erklärt sie. Ein Film kostet umgerechnet zwölf Cent. Hollywood interessiert hier niemanden – beliebt sind Liebesgeschichten mit Happy End. Viele kommen auch, um ihre Handys aufzuladen – Strom gibt es in der Siedlung nicht. Manche zahlen ein paar Cents, um ein Lied zu hören, das dann laut über den Hof dröhnt.
»Wir sparen für einen Drucker«, sagt Victoria Vaweka. Viele brauchen Kopien, um Papiere für Behörden vorzubereiten. »Eine Kamera wäre auch noch eine wichtige Anschaffung«, meint die junge Kongolesin. Sie wirkt gelassen, fast stoisch. Doch man spürt, wie viel Stolz in jedem Satz mitschwingt. Den Laden hat sie mit Geld aus den Ersparnissen der Frauengruppe aufgebaut. »Ich bin die Chefin, mein Bruder arbeitet hier«, sagt sie und lächelt schüchtern.
Auf dem Markt im Zentrum der Siedlung riecht es nach rohem Fleisch und trockener Erde. Dekadiya Niraminane steht in einem dunklen Häuschen, vor ihr ein Baumstumpf, eine Machete und ein blutiger Knochen. Hinter ihr hängt ein Rinderkörper von der Decke. Der Fleischladen ist das zweite große Projekt der Gruppe – die erste von Frauen geführte Metzgerei in der Siedlung. Das Fleisch wird direkt vor den Augen der Kundschaft zerlegt.
Vor zehn Jahren kam Niraminane aus Burundi. Heute ist sie stellvertretende Vorsitzende der Metzgervereinigung – sie entscheidet, wann geschlachtet wird und wann das Fleisch raus muss, bevor die Hitze es verdirbt. »Wenn eine Kuh ganz verkauft ist, beginnt die nächste Schicht«, sagt sie. Drei Tiere pro Woche – das sei gut. »Fünf sind das Maximum, aber das hängt von der Jahreszeit ab. Wenn die Bauern säen, haben sie kein Geld für Fleisch, weil sie ihre Arbeiter bezahlen müssen.« Manchmal müssen sie das Fleisch salzen und in der Sonne trocknen, damit es nicht verdirbt. Nichts darf verloren gehen – zu knapp sind die Güter.
Wenn sie nicht in der Metzgerei steht, baut Dekadiya Niraminane irische Kartoffeln an. Von der Ernte bezahlt sie die Gärtnerinnen, die ihr dabei helfen. Es sind kleine Kreisläufe in der Siedlung, die einander tragen. Die Frauen haben fragile Gleichgewichte aufgebaut, in einem von Mängeln geprägten Alltag.
An allem wird gespart
Die grassierende Armut in Kyaka II hängt auch mit einem neuen Kategorisierungssystem des Welternährungsprogramms zusammen. Dieses teilt Geflüchtete in Prioritätsgruppen ein, um die knapper werdenden Lebensmittelrationen besser zu verteilen. Wer als »weniger schutzbedürftig« gilt, fällt dabei durchs Raster. Seit dem Rückzug der US-Organisation USAID erhalten die Bewohnerinnen und Bewohner laut Daniel Kisamo, dem Leiter der Siedlung, nur noch vier Dollar pro Monat. Kyaka II sei »die am stärksten betroffene Siedlung, was Lebensmittelrationen betrifft«. Hinzu kommen Katastrophen wie im vergangenen Jahr, als Überschwemmungen große Teile der Siedlung zerstörten – viele Familien mussten erneut fliehen.
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Doch nicht nur Essen ist knapp: Ein Lehrer betreut hier im Schnitt 292 Kinder. Daniel Kisamo spricht von »sich wandelnden Geschlechterrollen« – immer öfter seien es Frauen, die allein für ihre Familien sorgen, weil Männer ohne Vorwarnung verschwinden. Gleichzeitig wächst die Zahl der Straßenkinder spürbar.
Am Nachmittag führen mich die Frauen in ihren Lagerraum. Säcke voller Maniokmehl stapeln sich dort. Maniokmehl sei das günstigste Nahrungsmittel der Region, erklären sie. »Man mischt es mit Wasser – das ergibt eine Suppe«, sagt die Frau am Verkaufsstand. Ein Kilo verkaufen sie derzeit für umgerechnet 24 Cent – in einem Land, in dem der Durchschnittslohn unter 300 Euro liegt, in den Siedlungen vermutlich noch deutlich weniger.
»Egal, ob jemand neu ist oder von Anfang an dabei – sie erhält den gleichen Zugang zu unseren Ersparnissen«, sagt eine Frau mit wachem Blick und von der Sonne geröteten Wangen. »Vor dem Cassava-Geschäft war ich traurig und einsam. Jetzt habe ich Freunde, ein Ziel, eine Familie.« Wenn eine von ihnen ein Problem habe, sagt sie, setzten sich alle zusammen, um zu beraten, wie sie helfen können. Sie strahlt, die anderen nicken. Sie träumen davon, weitere Stände zu eröffnen. Das Wort »Flüchtlinge« oder »Flucht« fällt an diesem Tag kein einziges Mal.
Fremde werden Nachbarn
Außerhalb des Camps wohnt Mary Naigaga. Sie lebt in der sogenannten Host-Community, rund 15 Minuten entfernt, mit ihrem Mann und ihren drei Kindern. Eine staubige Straße trennt ihre Welt von jener der Geflüchteten. Sie sitzt auf dem Boden vor ihrem Haus, umringt von Kindern. Ihre Lebensgrundlage ist der Anbau von Bohnen, Maniok und Matoke. Die Geflüchteten gehörten zu ihren Kunden, erzählt sie. »Die unterstützen mich. Das einzige Problem ist, wenn sie kein Geld haben.« Dann zögert sie, sieht in die Ferne – erschöpft. »Wenn einer sagt, er hat nur 3000 statt 5000 Schilling, und du siehst, dass er nichts zu essen hat, dann gibst du es einfach her. Besonders, wenn er Kinder hat. Ich bin eine Mutter. Wenn du ein weinendes Kind siehst, gibst du einfach etwas.«
Naigaga erzählt von geflüchteten Nachbarn, die inzwischen Freunde geworden seien. Sie wohnen zur Miete. »Wir sind doch alle Menschen. Warum sollten wir uns nicht verstehen?« Auf die Frage, wie sie das Leben dieser Menschen einschätze, antwortet sie: »Das Land, das sie bekommen, ist zu klein. Sie können sich kaum ernähren.« Sie spricht über kulturelle Unterschiede, über Sprache, über das Essen – und über das Elend, das sie erfahren. »Wenn man die Geschichten der Geflüchteten hört, fühlt man sich schlecht.«
Sie erzählt von einer alten Frau, davon, wie sie sie kennenlernte: allein, weinend, weil ihre ganze Familie getötet worden sei. »Sie hat gesagt, alle seien umgebracht worden. Deshalb sei sie aus dem Kongo geflohen, um wenigstens zu überleben.« Sie berühren diese Schicksale. »Manchmal siehst du Frauen mit fünf Kindern, ohne Essen. Sie weinen, weil ihre Männer und Verwandten getötet wurden. Jetzt sind sie allein mit ihren Kindern hier.«
Uganda hat diese Menschen bereitwillig aufgenommen. Das Land teilt, obwohl es selbst wenig hat. Doch seit die internationalen Hilfsgelder versiegen, wächst die Not. Die Frauen aus dem Kollektiv in Kyaka II versuchen, sich selbst zu helfen: Sie schaffen Wirtschaftsstrukturen, mitten in prekären Verhältnissen.
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