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Jarmuk im Kreuzfeuer der Milizen

Hunderttausende Flüchtlinge wurden im Stadtteil von Damaskus Opfer der Kriegshandlungen in Syrien

  • Lesedauer: 7 Min.

«Unser Gott zürnt mit uns, zu viele Tote, zu viel Zerstörung.» Abu Ahmed blickt aus dem Fenster und schüttelt den Kopf. In kurzer Zeit hat sich der Himmel über Damaskus rot gefärbt. Staub und Sand wirbeln durch die Luft, im Fallen verwandeln sich die Regentropfen in kleine Schlammkugeln. Auf Jacken und Tüchern, Schirmen, Fenstern und Autos hinterlassen sie braunrote Flecken.

«Das Wetter ist Wissenschaft», weist Omar B., ein junger Apotheker Abu Ahmed zurecht. «Es hat nichts mit Gott zu tun, sondern mit der Wetterlage, wenn es hier einen Sandsturm gibt.» Die Zeit, als Menschen daran glaubten, dass die Götter sie mit dem Wetter bestrafen wollten, sei lange vorbei, fügt er hinzu. Abu Ahmed überlegt einen Moment und sagt dann: «Aber es gibt zu viele Tote.» Der Apotheker beharrt: «Das hat aber nichts mit dem Wetter zu tun.»

In der Nacht regnet es weiter, am nächsten Morgen ist alles mit einer dichten Sandschicht überzogen. Der Straßenlärm wirkt gedämpft. Selbst die Vögel scheinen leiser zu singen als sonst. Von der Sinai-Halbinsel soll der Wind den Sand bis an die Levante geweht haben, heißt es im Wetterbericht. Eine Auswirkung der Sandstürme, die über die Golfstaaten gezogen waren.

«Das ist es, was die Leute vom Golf für uns übrig haben», sagt die Offizierin, die ich am nächsten Morgen in ihrem Büro unweit des Ommayyaden-Platzes treffe. «Sand und islamistische Kämpfer.» Sie und ihr Kollege, ein Oberst, sind zuständig für Journalisten, die in militärisch sensible Gebiete fahren wollen. Meine Anfrage, ob ich das palästinensische Flüchtlingslager Jarmuk-Muchaiyem sehen darf, war positiv beantwortet worden. Während wir auf einen Journalisten aus Kroatien warten, erkundigen sich die beiden Offiziere danach, was man in Deutschland über den Krieg in Syrien denkt. Syrien kämpfe gegen mittelalterliche Fanatiker, ob man das in Europa wisse?

Der Krieg in Syrien geht ins fünfte Jahr. Je länger er dauert, desto geringer wird der Spielraum für politische Veränderungen. Die syrischen Streitkräfte kämpfen an vielen Fronten gleichzeitig. Es gibt Dutzende lokaler Waffenstillstände und Vereinbarungen zwischen der Armee und bewaffneten Männern in verschiedenen Orten. Doch immer wieder werden die Vereinbarungen von islamistischen Milizen torpediert. Deren Befehlshaber und Geldgeber sitzen jenseits der syrischen Grenzen und haben kein Interesse an einer innersyrischen Lösung des Konflikts. Wo die Nusra-Front und der «Islamische Staat in Irak und der Levante» (IS) auftauchen, ist an Waffenstillstände nicht zu denken.

Für die mehr als 500 000 Palästinenser in Syrien ist die Lage katas- trophal. Alle 13 Flüchtlingslager der 1948 aus Palästina Vertriebenen waren Ziel bewaffneter Gruppen, fast alle Lager wurden zerstört. Teil der Tragödie ist, dass die palästinensische Hamas-Organisation sich bereits 2011 auf die Seite regierungsfeindlicher Gruppen in Syrien stellte in dem Glauben, dass eine Machtübernahme durch die Muslimbruderschaft, der sie nahesteht, wie in Tunesien und Ägypten auch in Syrien kurz bevor stünde. Die Palästinenser lehnten das zwar mehrheitlich ab, doch sie mussten hilflos zusehen, wie die Lage - auch durch die Hamas - eskalierte. Von vielen als Verrat empfunden wurde, dass die Volksfront zur Befreiung Palästinas - Generalkommando (PFLP-GC) im November 2012 der Islamistengruppierung Nusra-Front den Zugang zu Jarmuk ermöglichte. Innerhalb von 24 Stunden sollen 150 000 der in Jarmuk registrierten palästinensischen Flüchtlinge geflohen sein. Die Mehrheit der rund 700 000 Syrer, die in Jarmuk lebten, hatte das Viertel schon 2011 verlassen.

Als nach fast zweijährigen Verhandlungen die verbliebenen Milizen in Jarmuk, darunter auch «Aknaf Bait al-Maqdis», eine Brigade der Hamas, einem lokalen Waffenstillstand zustimmen wollte - die Vereinbarung sollte am 9. April unterzeichnet werden - schlug erneut die Nusra-Front zu. Sie - oder zumindest ein Teil ihrer Kämpfer - öffneten am 1. April früheren Verbündeten, die sich inzwischen als IS bezeichneten, den Zugang zu Jarmuk.

«Herzlich willkommen, wir freuen uns, dass ausländische Journalisten hierher kommen. Wir wünschten, sie würden berichten, was hier wirklich geschieht», sagt ein General der syrischen Streitkräfte, als er den kroatischen Kollegen und mich in einem karg eingerichteten Büro am Batikah-Platz, dem Eingang zu Jarmuk empfängt. Im Stadtteil kämpften Palästinenser gegen die Nusra-Front und «Daesh», wie die arabische Abkürzung von IS lautet, unterstreicht der General: «Es gibt hier keine syrischen Soldaten . In Jarmuk-Muchaiyem haben die Palästinenser das Sagen.» Die Lage sei unübersichtlich, fährt er fort. Einige Hamaskämpfer hätten ihre Waffen abgegeben. Die Nusra-Front, die Al Qaida nahesteht, sei die stärkste der Kampfgruppen.

Dagegen hätten jetzt 14 palästinensische Organisationen Kämpfer aufgestellt, erklärt der General. Die PFLP-GC und andere palästinensische Verteidigungskräfte versuchten, die Islamisten zu vertreiben. Schätzungsweise 6000 Zivilisten im südlichen Teil des Lagers hätten eine Evakuierung bisher abgelehnt, möglicherweise seien es Angehörige der Kämpfer.

Geduldig beantwortet er unsere Fragen und richtet dann eine Botschaft direkt an Deutschland: «Sagen Sie Frau Merkel, dass wir den Deutschen immer vertraut haben. Sie standen an der Seite der Menschen, die Hilfe brauchten, auf der Seite des Gesetzes. Warum will Deutschland unsere Regierung mit diesem Krieg verändern? Was würde Frau Merkel sagen, wenn jemand das in ihrem Land tun würde? Warum unterstützt Deutschland die bewaffneten Gruppen? Warum will Deutschland Syrien spalten, wo es sich selber doch wieder vereinen konnte?»

Inzwischen ist Ali Mustafa, der Direktor des UN-Hilfswerks für palästinensische Flüchtlinge in Syrien, eingetroffen. Internationale, syrische und palästinensische Hilfsorganisationen hätten seit mehr als einem Jahr Lebensmittel, Medikamente und Tabletten für die Reinigung von Wasser in Jarmuk verteilt. Nachdem sie wiederholt von Scharfschützen der Milizen angegriffen worden waren, würden die Hilfsgüter nun an den östlichen Teil von Jarmuk gebracht.

An der Palästinastraße, die Jarmuk von Tadamun trennt, seien Verteilstellen für Jarmuk eingerichtet worden. Rund 1000 Familien, insgesamt etwa 8000 Personen, seien in den vergangenen Tagen aus Jarmuk evakuiert und in angrenzenden Stadtteilen untergebracht worden.

Wenig später werden wir von palästinensischen Kämpfern an der Ali-al-Kharbouch-Straße empfangen, in die wir in südlicher Richtung laufen. Verkohlte Hauswände, zerborstene Scheiben, durch die wir in das Innere der dicht aneinander gebauten Häuser sehen können. Wie in anderen Kampfzonen auch hatten sich Nusra- und andere Milizionäre den Weg von einem Haus zum nächsten gebahnt, indem sie große Löcher in die Wände schlugen. Bis zum «Zigarettenkreisel» habe man Muchaiyem zurück erobert, sagt einer der Palästinenser. Sie verfolgten mit der syrischen Armee das gleiche Ziel: Muchaiyem und Jarmuk von den Milizen zu befreien, damit die Zivilbevölkerung zurückkehren kann.

Weiter als bis zum Ende der Al-Kharbouch-Straße lassen sie uns nicht gehen. Dies sei wegen der Scharfschützen zu gefährlich. Gesichter von Kämpfern tauchen in den Ruinen auf und blicken uns neugierig hinterher. Zweierpatrouillen, das Gewehr im Anschlag, laufen an uns vorbei. Manche sind im Studentenalter, andere haben weiße Haare. Mit dem Rücken zur Kamera posiert ein Mann mit seiner Waffe bereitwillig für den kroatischen Kollegen vor einem Trümmerhaufen.

Zurück aus den Ruinen von Jarmuk-Muchaiyem kommt am Batikah-Platz ein alter Mann auf uns zu. Er habe bei der Polizei einen Bericht abgegeben, erzählt er und hält uns ein dicht beschriebenes Blatt Papier mit offiziellen Stempeln entgegen. Ahmed Joussef Jabali heiße er, 1943 sei er in Haifa, Palästina, geboren und 1948 mit seinen Eltern nach Damaskus gekommen. Mitten in der Nacht hätte man ihn jetzt in seinem Haus überfallen, geschlagen und hinausgejagt. Alles, was er besessen habe, sei zerstört oder gestohlen worden. Die Schwiegermutter seiner Tochter habe ihm und seiner Familie zwei Zimmer überlassen, sagt er. «Hoffentlich wird alles eines Tages wieder gut. »Möge Allah uns beschützen.«

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