Ideen, Ideen, Ideen

Ein reicher, kranker Onkel aus Amerika, die Moral der fünfziger Jahre, angeklebter Schnauz: Matthias Dell über den Münster-Tatort »Erkläre Chimäre«

  • Matthias Dell
  • Lesedauer: 4 Min.

Mit den familiären Bindungen der Ermittler im ARD-Sonntagabendkrimi ist es so eine Sache - sie stören nämlich nur. Besonders gut ist das zu sehen bei allein erziehenden Frauen, die Kinder haben (Maria Simons Olga Lenski im Brandenburger »Polizeiruf«, die Charlotte Lindholm der Furtwänglerin im Hannoveraner »Tatort«), weil sich das Drehbuch am besten gleich zu Anfang überlegt, wie es die Betreuung der Kleinen organisiert. Ferien auf dem Reiterhof funktioniert aber auch nicht jedes Mal als Ausrede.

Das macht die Abbildung von gesellschaftlicher Wirklichkeit schwierig, denn ein getrennt lebendes Elternteil, das sich nach der Arbeit um das Kind kümmern muss, steht dann nicht mehr für diese Arbeit zur Verfügung, die im »Tatort« zumeist ja unabhängig von gewerkschaftlich ausgehandelten Zeiten stattfindet. Und in jeder Folge Haushalts- und Erziehungsroutinen vorzuführen, wirkte auf Dauer wohl ziemlich öde.

Deshalb erscheint es als schicker Einfall, die Kommissare mit abenteuerlichem Privatleben auszustatten; praktikabel sind die Ideen in der Folge selten. Wann etwa Frank Thiel (Axel Prahl) in Münster zuletzt mit seinem in Neuseeland lebenden Sohn geskypet hat, wäre eine Frage, die bei »Wer wird Millionär?« mindestens sechsstellige Gewinnsummen verspräche. Es ist so egal.

Empfänglich sind die Einzelfilme dagegen für Einmal-Auftritte vermeintlicher Verwandtschaft. Mit Gustav van Elst taucht in »Erkläre Chimäre« (WDR-Redaktion: Nina Klamroth) nicht zum ersten Mal ein Teil von Boernes kryptoadelig-weitschweifiger Familie auf: ein reicher, kranker Onkel aus Amerika, den es zu beerben gelten könnte, weshalb Boerne (Jan-Josef Liefers) seinen Kollegen Thiel, nachdem er ihm das Leben gerettet hat, ins Kasperletheater einer vorzuspielenden homosexuellen Beziehung zwingt.

Das ist so bieder gedacht - schwule Onkels vererben lieber an schwule Neffen als an heterosexuelle Neffen -, wie die fünfziger Jahre gemeinhin erinnert werden. Auf diese Zeit und ihren onkeligen Humor spielt der »Tatort«-Münster zumindest nach Büchern seiner Erfinder Jan Hinter und Stefan Cantz häufiger an. Das schließt natürlich auch ein, dass der ermordete Partner des Onkels, ein kubanischer Waise namens Luiz Bensao, kurzzeitig als Opfer eines ausschließlich Schwule meuchelnden Serienmörders vermutet wird.

Dass die Moral der fünfziger Jahre aber ebenso natürlich nicht einfach wieder einzuführen ist in einem Fernsehfilm aus dem Jahr 2015, zeigt dann die Besetzung des Onkels. Den hätte man sich alt, krank, knarzig, spleenig und engstirnig vorgestellt nach allem, was Boerne vorab über ihn erzählt hat - und herauskommt dann die Besetzung mit Christian Kohlund in einem modisch-diskutablen Ledermantel. Mit Kohlund weht eine völlig unspezifische, zen-buddhistische Friedfertigkeit durch den »Tatort«, von der man nicht weiß, ob sie sich aus der Arbeit an den Stränden des ZDF-»Traumhotel« in fernen Idyllen ableitet oder sich aus der Resignation in ZDF-»Traumhotel«-Filmen mit den immer gleichen, quasi automatisierten Drehbüchern ergibt. Die Trauer um den toten Geliebten ist jedenfalls kaum mehr als zarte Melancholie für einen ausgeglichenen Charakter wie Onkel Gustav.

Diese Widersprüche sind es nun, die in »Erkläre Chimäre« hoffnungs- und vor allem froh stimmen. Denn der Film ist ziemlich überladen, für die Erklärung der Verwicklungen (uralter Champagner, Crystal-Meth-Süchtige Weinhändler-Kinder, tote Taxi-Fahrerinnen) hätte man zum Schluss fast ein Symposion veranstalten können. Gleichzeitig nimmt die Vorliebe für den Ulk, den Buch und Film (Regie: Kaspar Heidelbach) sich machen, durchaus für sich ein.

Wie sich Thiels Verschlucker am Anfang bis zur Lebensgefahr hochröchelt, wie er danach eigentlich nur noch heiser spricht, wie Nadeshda (Friederike Kempter) das Komplementärpflaster auf die Nase bekommt, wie Sunnyi Melles als Weinhändlerin sowieso nur haucht, wie Uwe Preuss (Chief Roeder aus dem »Polizeiruf« in Rostock) mit angeklebtem Schnauz überhaupt nicht in die Weinhändlerrolle passt, wie krustig der Arzt (Matthias Redlhammer) ist, der’s am Ende war – das ist doch alles unterhaltsam.

Eine Bemerkung, die von einer Joachim-Gauck-Rede übrig war:
»Yo, Digger, Freiheit.«

Eine Frage, die öfter gestellt werden sollte:
»Warum das alles?«

Etwas für den Grabstein:
»Er hatte sich als Techniker hervorragend bewährt.«

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