• Reise
  • 13. nd-Lesergeschichten-Wettbewerb

Zugfahrt des Grauens

  • Annegret Winkel, Halle (Saale)
  • Lesedauer: 4 Min.
Schreiben ist für die ehemalige Bibliotheksassistentin mehr als ein Hobby, vielmehr Leidenschaft und Passion. Seit einigen Jahren ist die 50-jährige Erwerbsunfähigkeitsrentnerin Mitglied im Schriftstellerverband Sachsen-Anhalt. Die geschilderte Zugfahrt hat sie nicht nur selbst erlebt, sondern hat sie auch so aufgewühlt, dass sie gar nicht anders konnte, als sie aufzuschreiben.
Schreiben ist für die ehemalige Bibliotheksassistentin mehr als ein Hobby, vielmehr Leidenschaft und Passion. Seit einigen Jahren ist die 50-jährige Erwerbsunfähigkeitsrentnerin Mitglied im Schriftstellerverband Sachsen-Anhalt. Die geschilderte Zugfahrt hat sie nicht nur selbst erlebt, sondern hat sie auch so aufgewühlt, dass sie gar nicht anders konnte, als sie aufzuschreiben.

Eine schlaflose Nacht. Meine Zugfahrt sollte ursprünglich um acht Uhr beginnen. Will nicht warten, sondern nehme den Nachtzug. Fast alles Schlafwagen. Vor den beiden Waggons mit den Sitzabteilen sammeln sich Menschen, als würden sie gleich wie reife Trauben von den Reben fallen. Der Zug wird voll. Ich hoffe auf einen Platz. Ich schaue die beiden Männer, die schon im Abteil sitzen, an. Der eine, kurze, leicht ergraute Haare, Dreitagebart, schlank, ist adrett gekleidet. Er trägt ein »Tom Tayler«-Shirt, Levis-Jeans und braune, blank geputzte Schuhe. Seine unruhigen Augen mustern mich. Der andere lächelt. Weißer Markenpullover, dunkelblaue Hose, untersetzte Figur, grauer Bürstenschnitt. Unter den Augen dunkle Ringe. Sein Gesicht lässt ihn jünger wirken, als er zu sein scheint. Ich schätze beide auf Mitte Fünfzig. Zum Lesen fehlt mir die Konzentration. Bin hellwach und sage mehr zu mir selbst: »Stehen wollte ich nicht bis zur Ankunft.« Der am Fenster in Fahrtrichtung Sitzende meint: »Wir müssen bis Düsseldorf.« In Gedanken nenne ich ihn Tom. Ich frage: »Dienstlich oder privat?« Der Bürstenschnitt antwortet: »Wegen unserer Tischlerei, Geld verdienen für die Kanaken.«

Ich stutze, mein Gesicht versteinert: »Ich habe mich jetzt verhört?« »Nein, Asylantenheime würden wir auch abbrennen. Die sollen alle ersaufen im Mittelmeer. Das deutsche Volk will die Ausländer nicht.« Und sofort Tom: »Was denken Sie, wer da in Dresden für Pegida läuft? Menschen wie wir, gut angezogen. Ganze Firmen fahren in Sonderbussen dorthin. Können Sie ruhig glauben: Die Rechten sorgen wenigstens für Ordnung. Die bringen unsere Kinder sicher zur Schule.« Der Bürstenschnitt ergänzt: »Bei uns wurde ein Flüchtlingsheim neben der Kita aufgemacht. So eine Sauerei! Alles Verbrecher. Jaja, so ist es.«

Ich empöre mich mit fester, energischer Stimme, bebe innerlich: »Ich lebe in einem multikulturellen Viertel. Ich kenne Flüchtlinge, sie sind meine Nachbarn. Einen kleinen Jungen habe ich neulich spontan umarmt, so fröhlich kam mir das Bürschlein schon von Weitem lachend entgegengehüpft.« Ich fühle mich jetzt verantwortlich dafür, meine Nachbarn, eine siebenköpfige rumänische Familie, verbal zu beschützen. Tom meint: »Sie haben keine Ahnung, was los ist! In vier Wochen gibt es hier Bürgerkrieg. Ich bin dabei.« Dann fügt er, zu seinem Nachbarn gewandt, nickend hinzu: »Und wenn wir beide dabei draufgehen!« Der Bürstenschnitt verschränkt die Arme vor der Brust, lehnt sich gelassen im Sitz zurück und sagt gedehnt: »Es wird wieder einen Holocaust geben.«

»Die Nazis haben ganz Europa in Schutt und Asche gelegt. Millionen Menschen verschiedener Nationalitäten und unterschiedlichen Glaubens haben sie einfach so wahllos umgebracht. Das sind die Verbrecher!« Meine Stimme zittert, ist fast erstarrt vor Entsetzen über das zuvor Gehörte. Hass, Gewalt. Tränen kann ich nur mühsam verbergen, so viel emotionale Eiseskälte strömt mir entgegen. Vor diesen Neonazis will ich nicht weinen. Noch ehe ich etwas entgegnen kann, wird die Abteiltür geöffnet. Eine Frau und ein Mann steigen zu. Die Frau will ihr Köfferchen in die Ablage wuchten. Tom nimmt es ihr aus der Hand, sagt: »Der ist schwer. Aber ein Ausländer ist da nicht drin? Sonst fliegt der Koffer gleich aus dem Fenster!« Die Frau meint leise, verschämt lächelnd: »Nein, da ist kein Ausländer drin.« Der Neue berlinert: »In Berlin können Kinder nicht mehr in ihrer Turnhalle spielen, weil dort Flüchtlinge untergebracht sind.«

Da habe ich sie: Zwei Brandstifter und die Biedermenschen. Wie weitsichtig schreibt Max Frisch davon in seinem Theaterstück »Biedermann und die Brandstifter«. So sah Hellmuth Karasek darin »eine Parabel, in der die Machtergreifung Hitlers treffend eingefangen ist. Der Terror kann sich unverblümt geben, sobald er den Bürger mit verstrickt hat, ihn zum Mitschuldigen macht. Er kann sich darauf verlassen, dass das Opfer nicht glauben wird, was es ahnt. Die Feigheit verschließt noch vor der Wahrheit Augen und Ohren.«

Erhebe mich, verlasse diese fahrende Keimzelle des Grauens. Auf dem Gang stehe ich gerade, drücke meinen Rücken durch. Neu ist für mich das Gefühl, auf diese Weise komfortabel zu reisen und sicher auf meinen Beinen zu stehen, obwohl der Zug ruckelt und schaukelt.

Annegret Winkel aus Halle/Saale »Eine schlaflose Nacht« [anhören]

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