• Reise
  • 13. nd-Lesergeschichten-Wettbewerb

Beten und wünschen ändern nicht die Welt

  • Brigitte Schneider, Rostock
  • Lesedauer: 4 Min.
Seit Jahren kam die 77-jährige frühere Lehrerin zu den Abschlussveranstaltungen des Wettbewerbs. »Weil ich Geschichten mag, die vom Leben erzählen.« Auf die Idee, ihre eigene in Worte zu fassen, brachte sie aber erst der diesjährige Wettbewerb. »So viele Erinnerungen kamen dabei wieder, schlechte und gute. Das aufzuschreiben, hat mir großen Spaß gemacht.«
Seit Jahren kam die 77-jährige frühere Lehrerin zu den Abschlussveranstaltungen des Wettbewerbs. »Weil ich Geschichten mag, die vom Leben erzählen.« Auf die Idee, ihre eigene in Worte zu fassen, brachte sie aber erst der diesjährige Wettbewerb. »So viele Erinnerungen kamen dabei wieder, schlechte und gute. Das aufzuschreiben, hat mir großen Spaß gemacht.«

Als meine Mutter 1941 starb, war ich drei, mein Bruder acht Jahre alt. Mein Vater war Soldat. Wir wurden in ein Kinderheim in Großmölln, das heutige Milno an der polnischen Ostseeküste, gebracht. Meine Erinnerungen beginnen mit dem Weihnachtsfest 1942. Größere Mädchen spielten für uns kleinere Theater. Ich glaubte, mir erschienen wahrhaftig Engel, die himmlischen Wesen, zu denen ich jeden Abend vertrauensvoll betete und denen ich meine sehnlichsten Wünsche anvertraute. Dass es sich auch um Heimkinder handelte, deren Zöpfe als wunderschöne blonde und gewellte Haare über die Schultern fielen, die gelbe Pappflügel und weiße Nachthemden trugen, erkannte ich nicht. Schüchtern und doch hoffnungsvoll glaubte ich an die Erfüllung meiner Bitten. Ich flehte jeden Abend: »Lieber Gott, pass’ bitte gut auf, dass die bösen Russen nicht den Papa totschießen, und mein Bruder soll nicht immer von der ›Tante‹ verhauen werden.« 1943 wurden wir in eine private Pflegestelle gebracht. Hier erlebten wir auch keine guten Zeiten. Waren wir unartig, bekamen wir Stockschläge. Als im März 1945 fast alle Einwohner des Dorfes in Richtung Westen geflohen waren, blieben wir zurück. Beim Einmarsch der sowjetischen Armee kam es leider zu grausamen Gewalttätigkeiten gegen die noch im Dorf verbliebenen Deutschen. Unsere Betreuerin wurde in meinem Beisein erschossen. Mein Bruder und ich waren nun allein. Niemand kümmerte sich um uns.

Wir streunten bis zum August 1945 herum, suchten überall nach etwas zu essen. Wir waren verlaust und verdreckt. In der sowjetischen Kommandantur konnten wir uns täglich eine Suppe und einen Kanten Brot abholen. Eines Tages wurden wir auf einen Lkw gesetzt. Man brachte uns in ein notdürftig eingerichtetes Kinderheim. Wir waren rund 80 Kinder bis 16 Jahre, wenige Betreuer, hatten immer Hunger und Durst aber kein eigenes Bett, keine Hilfe gegen körperliche Schmerzen, keine freundliche Zuwendung.

Im September 1945 wurden wir dann nach Westmecklenburg, nach Selmsdorf gebracht. Die erste Nacht verbrachten wir in einer großen Scheune. Am nächsten Tag mussten wir uns alle mitten im Dorf zur »Besichtigung« aufstellen. Die Dorfbewohner wurden aufgerufen, Kinder vorübergehend mit nach Hause zu nehmen. Ich erlebte hier ein sehr großes Glück, denn ich wurde von einer einfachen, bescheidenen und fürsorglichen Frau aufgenommen, die später meine Pflegemutter wurde, obwohl sie selbst zwei eigene Jungen hatte und ihr Mann noch nicht aus dem Krieg nach Hause gekommen war. Sie gab mir eine neue Lebenschance, indem sie mir half, meine verletzte Kinderseele zu heilen.

In der DDR konnte ich eine Entwicklung nehmen, die es mir ermöglichte, meinen Berufswunsch Lehrerin zu verwirklichen, denn ich wollte unbedingt mit Kindern arbeiten, mit ihnen spielen, lachen, sie trösten, wenn sie traurig sind. Immer begleiteten mich meine furchtbaren frühen Kindheitserlebnisse, aber auch die liebevolle Zuwendung und Wärme meiner neuen Familie. Meine Pflegeeltern gaben mir viele gute moralische Werte mit auf meinen Lebensweg. Sie lehrten mich, Dinge zu hinterfragen, um die Ursachen gesellschaftlicher Erscheinungen zu erkennen, und ich begriff sehr schnell, dass beten und wünschen nicht die Welt verändern, um den Menschen das zu ersparen, was ich erleben musste.

Nun begann für mich eine glückliche Kindheit, trotz bescheidener Lebensumstände so unmittelbar nach dem schrecklichen Zweiten Weltkrieg. Ich war eine sehr gute Schülerin und spürte, dass meine Pflegeeltern stolz auf mich waren. Mir standen nun viele Wege offen, ich entschied mich für den, eine gute Partnerin für junge Menschen zu werden und sie zu befähigen, mit Klugheit und Herz ihr Leben zu gestalten und dabei auch Schwächere und Benachteiligte mitzunehmen.

Im Oktober 2014, während eines Treffens mit ehemaligen Schülern, erhielt ich eine überwältigende Bestätigung dafür, dass mein Weg richtig war. Ich bin dankbar und glücklich.

Brigitte Schneider aus Rostock »Beten ud Wünschen ändern nicht die Welt« [anhören]

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