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  • 13. nd-Lesergeschichten-Wettbewerb

Einmal »Ich« zum Sonderangebot

  • Nicole Troelenberg, Reutlingen
  • Lesedauer: 3 Min.
Für die 31-jährige studierte Biologin war das Schreiben von Romanen und Kurzgeschichten schon immer ein Ausgleich zum streng durchgetakteten wissenschaftlichen Arbeitsalltag. Anregungen für ihre Geschichten findet sie unter anderem, wenn sie mit ihren Freunden unterwegs ist. »Ein Buch habe ich dabei immer im Gepäck, anders kann ich es mir gar nicht vorstellen.«
Für die 31-jährige studierte Biologin war das Schreiben von Romanen und Kurzgeschichten schon immer ein Ausgleich zum streng durchgetakteten wissenschaftlichen Arbeitsalltag. Anregungen für ihre Geschichten findet sie unter anderem, wenn sie mit ihren Freunden unterwegs ist. »Ein Buch habe ich dabei immer im Gepäck, anders kann ich es mir gar nicht vorstellen.«

Das weiße Blatt auf dem Bildschirm. Mit der Unschuld eines Neugeborenen blickt es mich an, wartet ungeduldig darauf, befüllt zu werden. Dieses weiße Blatt. Es ruft und fordert, während mein Blick zu der Stellenanzeige auf dem Schreibtisch greift. Grellgelb markiert die Anforderungen. Ein Bleistift fasst erste Gedanken in zarte Form. Meine Augen wandern noch einmal über den Text, suchen nach mir in den Zeilen - das Herz ist unentschlossen, wie so oft. Aber die Agentur für Arbeit sitzt auf der Schulter, flüstert einem in Dauerschleife Eile ein. Später, in den stillen Stunden der Nacht, werden sich ihre Geschwister dazu gesellen: Zukunftsangst und Zweifel. Sie gehen bei mir ein und aus, haben sich einen Schlüssel zu meiner Wohnung erschlichen. Wie lange schon? Sinnlos, darüber nachzudenken in dieser zeitlosen Zeit. Mit raschen Bewegungen fülle ich endlich das weiße Blatt. Ich tippe die Adresse des Arbeitgebers direkt unter meine, fette den Titel der Ausschreibung darunter und beginne mit dem Verkaufsgespräch.

Einmal »Ich« zum Sonderangebot. Mein literarisches Herz ächzt beim Anblick der monotonen Anbiederei. Wo einst fantastische Welten aus dem Nichts erwuchsen, Drachen ihre Schatten über blühende Felder warfen und Trolle mit mächtigen Keulen Elfen niederwalzten, versuche ich nun, mich in drei Absätze zu quetschen.

Wieder einmal! Es ist ein Hochseilakt über gähnendem Grund. Wo hört die Aufrichtigkeit auf und beginnt die übertriebene Beweihräucherung? Ist diese positive Eigenschaft der berühmte Tropfen, der das Wasser überlaufen und die Bewerbung im Müll verschwinden lässt? Ist der formulierte Satz originell oder Fließbandware für einen Personaler, der pro Tag die Texte aberdutzender Bewerber scannt?

Während der analytische Teil meines Verstands das Geschriebene begutachtet, horche ich noch einmal in mich hinein. Möchte ich überhaupt die nächsten vier Jahre meines Lebens in einem Labor verbringen? Acht bis zehn Stunden pro Tag an Spinnen, Spinnendrüsen und den Bestandteilen von Spinnenfäden forschen, um dann zu versuchen, die Ergebnisse in eine Form zu bringen, die veröffentlichungswürdig und damit in meinen Kreisen erst wirklich wertvoll ist.

Bin das wirklich ich? Müde, wie so oft, kriecht mein Blick zu dem Stapel mit den Alternativen. Durch die Jalousien blinzeln die ersten warmen Strahlen der Aprilsonne und zeichnen ihr gelbes Muster. Die Sehnsucht nach dem Grün vor der Tür wird auch heute unerfüllt bleiben. Vier Bewerbungen warten noch.

Vier zukünftige Ichs - allein in dieser Woche. Da ist der Arachnidenforscher, der die Klebefäden für die industrielle Anwendung nutzen möchte, der Amphibien kartografierende Ökologe tief im spanischen Hinterland, ein weiterer Genetiker, der an den Ursachen von Diabetes kratzt, und ein Verhaltensforscher, der die Grundlagen der Verhaltensweisen von Finken zu entschlüsseln versucht. Das Spiel des Lebens. Jeden Tag drehe ich das Rad, wäge das, was ich bin, gegen das, was ich sein könnte, und zerdenke mögliche Zukunftsversionen. Unendliche Ausführungen des Ichs - zumindest, bis die Realität ihr Urteil fällt.

Nicole Troelenberg aus Reutlingen »Einmal ich zum Sonderangebot« [anhören]

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