Der Demos betritt die Bühne

Volksabstimmung und Demokratie: Costas Douzinas über Griechenland, die Krisenpolitik und das Referendum

  • Costas Douzinas
  • Lesedauer: 9 Min.
Das Referendum trägt die Lehren der Platzbesetzungen in das Herz der Politik. Die Bevölkerung wird aufgefordert, unmittelbar über ihre Zukunft zu entscheiden.

Ein Mann sucht das australische Konsulat in Athen auf, um ein Arbeitsvisum zu beantragen. »Warum wollen Sie Griechenland verlassen?«, fragt der Konsul. »Ich fürchte, Griechenland könnte den Euro verlassen«, antwortet der Mann. »Keine Sorge«, antwortet der Konsul, »gestern habe ich mit meinem deutschen Kollegen darüber gesprochen, der mir versichert hat, dass Griechenland in der Eurozone bleibt.« »Das ist der zweite Grund, warum ich auswandern möchte.«

Diese Geschichte ist Ausdruck des unlösbaren Dilemmas, mit dem die Griechen konfrontiert sind: auf der einen Seite die Fortsetzung der katastrophalen Sparpolitik, die das Land zerstört hat, auf der anderen Seite der Grexit, der auf unabsehbar lange Zeit Druck auf den Lebensstandard einer Bevölkerung ausüben wird, deren Einkommen bereits halbiert ist.

Wenn Ministerpräsident Alexis Tsipras ankündigt, dass er der Bevölkerung die letzten Vorschläge der Europäer und des IWF zur Abstimmung vorlegen will, geht es darum, diese typische Aporie (Ausweglosigkeit) in eine besser handhabbare Frage zu verwandeln: Steht die Bevölkerung hinter der Regierung und deren Ablehnung der schlimmsten Auswirkungen der Sparpolitik, und wird sie sich gleichzeitig zu dem Verbleib in der Eurozone bekennen? Viel steht auf dem Spiel: Neben dem Schicksal Griechenlands geht es auch um die Europäische Union und die Demokratie.

Der Kontext für dieses Referendum ist das Verhalten der europäischen Partner in den vergangenen Monaten. Die SYRIZA-Regierung wurde mit einem eindeutigen Auftrag gewählt, nämlich die Sparpolitik zu beenden. Diese Politik wurde an zwei Fronten umgesetzt, der haushaltspolitischen Sparsamkeit und der Abwertung des griechischen Euro. (...)

Die interne Währungsabwertung wurde erzielt durch die wiederholte Senkung der Löhne im Privatsektor und die Abschaffung eines Großteils der Arbeitsschutzgesetze wie das Recht auf Tarifverhandlungen. Gleichzeitig hat die wiederholte Anhebung der Steuern, einschließlich der regressiven Steuern auf Immobilien, dazu geführt, dass die Ökonomie beispiellos ausgeblutet ist. Die Verelendung der arbeitenden Menschen, so lautet das Argument des IWF, soll zur Erhöhung der Konkurrenzfähigkeit beitragen und das Wirtschaftswachstum anregen.

Stattdessen ist das Projekt erbärmlich gescheitert. Die Wirtschaftsleistung ist um 26 Prozent gesunken, die Arbeitslosigkeit auf 27 Prozent gestiegen, die Jugendarbeitslosigkeit stieg auf 60 Prozent und über 3 Millionen Menschen leben an oder unterhalb der Armutsgrenze. Vor ein paar Jahren gab der IWF zu, dass er die nachteiligen Effekte der Sparpolitik auf die Wirtschaft unterschätzt habe, er habe den so genannten fiskalischen Multiplikator nur auf ein Drittel so hoch eingeschätzt, wie er dann tatsächlich war.

Vor diesem Hintergrund haben die Griechen im Januar 2015 die SYRIZA-Regierung gewählt und ihr den Auftrag mitgegeben, eine politische Umkehr einzuleiten. Es folgte eine Zeit der Verhandlungen. Es waren aber keine echten Verhandlungen. Angesichts des großen Machtgefälles zwischen den beiden Parteien und der Kluft zwischen den jeweiligen Ideologien waren diese Gespräche extrem asymmetrisch.

Ich habe diese »Verhandlungen« als europäischen Coup bezeichnet, den Versuch, einen »Regimewechsel« mit Hilfe von Banken statt Panzern zu erzwingen. Wirtschaftlich gesehen geht es für die Kreditgeber um nicht sehr viel, weil die griechische Ökonomie nur zwei Prozent des europäischen Bruttoinlandsprodukts ausmacht, was den Zusammenbruch der Beziehungen nicht wirklich rechtfertigt. Das Vorbeugeprinzip der Risikotheorie, wie sie in die europäische DNA eingeschrieben ist, fordert, dass die unabsehbaren Folgen eines Grexits für die europäische und die Weltwirtschaft vermieden werden sollten.

Die Bedrohung, die angeblich von einem Erfolg SYRIZAs und einem laut IWF wirtschaftlich unrentablen Haircut für die griechischen Schulden ausgeht, ist eine politische, keine ökonomische. Die europäischen Eliten fürchten, dass die Ablehnung der Sparpolitik vonseiten der griechischen Bevölkerung und der Regierung auf ganz Südeuropa übergreifen könnte.

Die Furcht vor der politischen Ansteckung ist die einzig plausible Erklärung für das Vorgehen der Europäer und des IWF. Das Ziel ist klar: entweder Sturz der Regierung, wenn sie die harten Bedingungen nicht akzeptiert, oder eine so schwere Demütigung, dass Partei und Regierung auseinanderbrechen.

Es gibt viele Anzeichen für diesen Versuch des »Regimewechsels«. Jedes Mal, wenn die griechische Regierung den Führungspersonen Europas einen politischen Vorschlag vorlegt, um das langfristige Problem der tragfähigen Schuldenbelastung zu lösen, wurde sie aufgefordert, zu den Technokraten zu gehen und die Kosten kalkulieren zu lassen. Kamen die Griechen mit einem detaillierten Kostenplan zurück, griffen die Gläubiger den politischen Rahmen an.

Der IWF besteht auf der internen Währungsabwertung und fordert dabei einen Schuldenschnitt, um ihn zu realisieren. Die Europäer sind hinsichtlich des demokratischen Mandats etwas sensibler, aber keinesfalls bereit, über eine Schuldenerleichterung zu verhandeln. Gefangen zwischen der Scylla beständig wachsender Verschuldung, bei der alte mit neuen Krediten abbezahlt werden, und der Charybdis eskalierender Sparpolitik, blieb SYRIZA nichts mehr zu verhandeln.

Die letzten Züge dieses Spiels sind charakteristisch für eine Sackgasse. Am 25. Juni legte Griechenland erneut gründlich kalkulierte Vorschläge vor. Zum ersten Mal wurden die Vorschläge von den Gläubigern begrüßt, die diese für eine gute Ausgangsposition hielten. Unmittelbar danach jedoch wiesen die Gläubiger zurück, was sie nur wenige Stunden zuvor als Grundlage für ein Abkommen bezeichnet hatten. Vier Tage vor Auslaufen des derzeitigen Finanzierungsprogramms erhöhten die Gläubiger die Summe, mit der die Ökonomie weiter ausgeblutet werden soll, auf über elf Milliarden Euro und sie forderten, dass der Löwenanteil der neuen Forderungen den Ärmeren aufgebürdet werden sollte.

Präsentiert wurde dieser abschließende Vorschlag nach dem Motto »Friss oder stirb!« Angela Merkel nannte ihn »großzügig«, während Donald Tusk, Präsident des Europarats, sagte: »Das Spiel ist aus.« Es zeichnete sich ab, dass die »Verhandlungen« nur dann zu einem Ergebnis kommen würden, wenn die griechische Regierung die Erpressung akzeptiert und ihre Ideologie, ihre Versprechungen an die Bevölkerung und die Hoffnungen, die sie den Griechen wie den Europäern gab, aufgibt. In diesem Kontext ruft Tsipras das Referendum aus und fordert die Bevölkerung auf, darüber zu entscheiden, ob sie die Position der Gläubiger akzeptieren will oder nicht.

Der Nachkriegskompromiss zwischen Kapitalismus und Demokratie äußerte sich auf höchst autoritäre Weise in der Gründung der Europäischen Union. Kapitalismus und Demokratie verfolgen unterschiedliche Prinzipien bei der Verteilung des Sozialprodukts. Wolfgang Streeck schrieb in seinem Buch »Gekaufte Zeit«, dass auf dem Markt und im bürgerlichen Recht die Verteilung nach Marktentscheidungen und Eigentumstiteln erfolgt, einschließlich Schuldverschreibungen, und sich in Preisen ausdrückt. Wer auf dem Markt scheitert, wird das Ziel von Philanthropie oder - bei dem Versuch des Widerstands - von polizeilicher Unterdrückung.

Soziale Gerechtigkeit ist auf der anderen Seite bestimmt von Kulturnormen und Kollektivvorstellungen von Gerechtigkeit, Anständigkeit und Solidarität. Sie sorgt dafür, dass jede und jeder einen Mindestlebensstandard genießen kann und Bürger- wie Menschenrechte unabhängig von individueller Wirtschaftsleistung oder Produktivität gelten. Soziale Gerechtigkeit äußert sich in Entscheidungen formeller und informeller Institutionen wie auch in Wahlen. Sie ist das Korrektiv zum marktgesteuerten Verteilungssystem.

SYRIZA hat deutlich gemacht, dass die Zukunft Griechenlands in der Eurozone und in der EU liegt. Die Verhandlungsposition der Regierung, die mit dem Mandat ihrer Wählerschaft bewaffnet war, stellt einen verzweifelten Versuch dar, die Kohabitation von Demokratie und Kapitalismus trotz der Feindseligkeit des Neoliberalismus gegenüber Wahlen beizubehalten. Der Spätkapitalismus beruht auf der Neutralisierung der Demokratie. Technokraten fällen alle wesentlichen politischen Entscheidungen, während die Bankiers und das Finanzkapital als Wählerblock erscheinen, der mit der Bevölkerung um die knappen Ressourcen konkurriert.

Der griechische Vorschlag könnte die politische Landschaft grundlegend verändern. »Volksabstimmung« gilt auf den Fluren der Brüsseler Bürokratie als ein schmutziges Wort. Die Eliten wurden traumatisiert durch Niederlagen gegen die Bevölkerungen in Frankreich, den Niederlanden, Irland und Polen, unter anderen, und sie kippten 2012 Papandreous Vorschlag für ein Referendum.

Die europäischen Eliten, die sich seit 1989 für unangreifbar hielten, spüren die Wut der Bevölkerung und können sie nicht begreifen. Der Vorschlag von Tsipras versetzt sie erneut in Furcht, weil jetzt das Volk die politische Bühne betritt. Das Referendum wird zu einer Begegnung mit dem Widerstand der griechischen Bevölkerung gegen die Sparpolitik und der Bewegung, die im Jahr 2011 mit der Besetzung des Syntagmaplatzes in Athen begann. Es rückt die Bevölkerung in den Mittelpunkt der Politik und es kündigt einen institutionellen Rahmen an, in dem direkte Demokratie zu einem ständigen Begleiter ihres repräsentativen Teils wird.

Auf dem Syntagma und auf vielen anderen Plätzen der Welt fand ein erstaunliches Experiment statt. Die Syntagma-Multitude imitierte und unterlief zugleich das Prinzip der Repräsentation und der Staatsorganisation. Auf täglichen Versammlungen und mit einem ausgefeilten Netzwerk von Arbeitsgruppen bot Syntagma einen Mikrokosmos des zukünftigen demokratischen Staats, der strikt dem Axiom der Gleichheit unterstellt ist. Die Syntagma-Multitude stellte keine leidende und unterdrückte Bevölkerung dar. Es handelte sich um aktive und kreative Leute, die sich in radikaler Demokratie übten und das Schicksal in die eigene Hand nahmen. Der Sieg SYRIZAs und der radikale Wandel in der griechischen Politik ging von Syntagma aus.

Das Referendum trägt die Lehren der Platzbesetzungen in das Herz der Politik. Die Bevölkerung wird aufgefordert, unmittelbar über ihre Zukunft zu entscheiden. Über SYRIZA und die griechische Opposition wird in den nächsten Tagen das Urteil gefällt werden.

In einer Diskussion mit dem britischen »Guardian« und in verschiedenen Interviews wurde ich gefragt, ob »Griechenland gerettet werden kann«. Die Kurzatmigkeit der Berichterstattung erweckt den Eindruck einer nahenden Apokalypse. Für die Medien mag das nützlich sein, mit der Realität hat das nichts zu tun.

Die Sonne wird auch morgen wieder über der Akropolis scheinen, die Eule von Athen wird mit der einbrechenden Dämmerung ihren Flug beginnen, wie Hegel schrieb. Trotz all der Schwarzseher bleibt die Bevölkerung ruhig, stoisch, sich der Bedeutung des historischen Moments bewusst. Die Hellenen sind sehr viel ausdauernder als die meisten Zweifler.

Das Referendum stellt aber auch die europäischen Eliten vor ein großes Dilemma: Respektieren sie die Entscheidungen der Bürger oder sind die Forderungen der Bankiers, Finanziers und ihrer Freunde in Politik und Medien die Bibel des neuen Europas? Das griechische Volk gibt der Europäischen Union die Gelegenheit, ihre Verpflichtung auf die Werte der Aufklärung - Gleichheit, Freiheit, Solidarität - und die Prinzipien der eigenen Gründung zu bekräftigen. Auf wundersame Weise gibt uns der Geburtsort der Demokratie die Gelegenheit, sich neu auf ihre Ideale im 21. Jahrhundert zu verpflichten.

Costas Douzinas ist griechischer Philosoph, Rechtswissenschaftler und Autor von »Philosophy and Resistance in the Crisis«. Er lehrt an der Birkbeck University of London und ist Direktor des Birkbeck Institute for the Humanities. Die Übersetzung seines hier leicht gekürzten Textes stammt von Rosemarie Nünning. Die vollständige Version finden Sie unter dasND.de/Douzinas

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