NSA-Spionage: US-Botschafter ins Kanzleramt einbestellt

Wikileaks: Bundesregierungen wurden von US-Geheimdienst ausspioniert / Bundesanwalt will keine neuen Ermittlungen / In den Unterlagen findet sich eine Überwachungsliste mit 69 Telefonnummern / Riexinger fordert, TTIP-Verhandlungen auszusetzen

  • Lesedauer: 7 Min.
Die Empörung über US-Spähaktionen gegen französische Präsidenten ist kaum verklungen, da legt Wikileaks nach. Diesmal rückt wieder Berlin in den Fokus. Die NSA interessierte sich besonders für die Währungs- und Handelspolitik.

Update 17.00 Uhr: Schäuble vermisst «Maß und Mitte» in US-Geheimdiensten
Bundesfinanzminister Wolfgang Schäuble (CDU) hat die US-Geheimdienstarbeit angesichts neuer Spionagevorwürfe deutlich kritisiert. Es dränge sich der Eindruck auf, «dass bei den amerikanischen Diensten der eine oder andere möglicherweise Maß und Mitte ein wenig aus dem Blick verloren hat», sagte Schäuble der «Bild»-Zeitung (Freitag) mit Blick auf die Enthüllungen, wonach der amerikanische Nachrichtendienst NSA über Jahre weite Teile der Bundesregierung ausgespäht haben soll - auch das Finanzministerium.

Update 15.15 Uhr: US-Botschafter ins Kanzleramt gebeten
Der US-Botschafter in Deutschland, John B. Emerson, ist nach einem Bericht der «Frankfurter Allgemeinen Zeitung» wegen der NSA-Spähaktionen zu einem umgehenden Gespräch ins Kanzleramt gebeten worden. Kanzleramtschef Peter Altmaier (CDU) wolle von Emerson Aufklärung über abgehörte Gespräche von Bundeskanzlerin Angela Merkel (CDU) und Mitarbeitern des Kanzleramts erhalten, berichtete das Blatt am Donnerstag in seiner Online-Ausgabe. Eine Bestätigung dafür gab es zunächst nicht.

Update 14.55 Uhr: Bundesanwalt Range: Keine neuen Ermittlungen wegen Enthüllungen
Die Bundesanwaltschaft leitet nach den neuen Wikileaks-Enthüllungen über Abhöraktionen des US-Geheimdienstes NSA in Deutschland erst mal kein neues Ermittlungsverfahren ein. Das teilte die Behörde am Donnerstag in Karlsruhe mit. Generalbundesanwalt Harald Range gehe den neuen Veröffentlichungen von Wikileaks «mit Blick auf eine mögliche strafbare Handlung im Rahmen seiner Verfolgungszuständigkeit nach», hieß es. Aber: «Eine Entscheidung über die Wiederaufnahme der Ermittlungen ist damit derzeit nicht verbunden». Laut der Enthüllungsplattform Wikileaks soll die NSA über Jahre weite Teile der Bundesregierung ausgespäht haben. Bereits im Oktober 2013 war bekannt geworden, dass der US-Geheimdienst wohl jahrelang das Handy von Kanzlerin Angela Merkel ausspionierte. Der Generalbundesanwalt hatte dazu Ermittlungen eingeleitet, diese jedoch Mitte Juni aus Mangel an Beweisen eingestellt.

Update 14.15 Uhr: Opposition: Merkel soll handeln
Nach den neuen Enthüllungen über die Ausspähaktionen des US-Geheimdienstes in Deutschland haben führende Vertreter im NSA-Untersuchungsausschuss Bundeskanzlerin Angela Merkel (CDU) zum Handeln aufgefordert. «Es wird jetzt dringend nötig sein, dass sich die Bundeskanzlerin aus der Deckung begibt», sagte der SPD-Obmann im Ausschuss, Christian Flisek, am Donnerstag.

Wenn Merkel ihre Aussage «Ausspähen unter Freunden, das geht gar nicht» auch nur ansatzweise ernst nehme, «dann ist spätestens jetzt der Zeitpunkt da, wo sie einen sehr intensiven politischen Dialog mit unseren amerikanischen Freunden suchen muss», verlangte Flisek. Die Obfrau der LINKEN im NSA-Ausschuss, Martina Renner, erklärte: «Es ist höchste Zeit, endlich die Katzbuckelei vor der US-Administration zu beenden.» Der Grünen-Abgeordnete Konstantin von Notz nannte es «naiv», anzunehmen, dass die Bundesregierung erst jetzt von den neuen Tatsachen erfahren habe. Er forderte Ermittlungen des Generalbundesanwalts.

Update 13.45 Uhr: LINKE fordert, TTIP-Verhandlungen zu beenden
Als Konsequenz aus dem NSA-Abhörskandal hat LINKEN-Vorsitzender Bernd Riexinger das Ende der Verhandlungen über ein transatlantisches Handelsabkommen gefordert. «Die NSA hat jahrelang die Bundesregierung abgehört und sich dabei besonders für die deutsche Wirtschafts- und Handelspolitik interessiert», sagte Riexinger dem «Tagesspiegel»

Update 13.00 Uhr: Ex-Verwaltungsrichter Graulich soll US-Spionagelisten prüfen
Der NSA-Untersuchungsausschuss hat den früheren Bundesverwaltungsrichter Kurt Graulich als Sonderermittler für die US-Spionagelisten benannt. Union und SPD setzten die Personalie am Donnerstag mit ihrer Mehrheit im Ausschuss durch - gegen den Willen der Opposition. Linke und Grüne kritisierte das Verfahren scharf. Sie pochen darauf, die Listen mit den kritischen Suchmerkmalen der Amerikaner selbst einzusehen, und wollen ihren Willen nun auf juristischem Weg durchsetzen.

Der Bundesnachrichtendienst soll dem US-Geheimdienst NSA über Jahre geholfen haben, europäische Unternehmen und Politiker auszuforschen. Die NSA lieferte dem BND demnach für die Überwachung des Datenverkehrs in seiner Abhörstation in Bad Aibling viele Tausend Suchmerkmale (Selektoren) wie Telefonnummern oder IP-Adressen von Computern, die gegen deutsche und europäische Interessen verstießen.

Update 12.45 Uhr: Lafontaine reagiert mit Unverständnis auf NSA-Spionage gegen ihn
Der ehemalige Bundesfinanzminister Oskar Lafontaine (LINKE) hat mit Unverständnis auf die Tatsache reagiert, dass der US-Geheimdienst NSA ihn offenbar überwacht hat. «Ich verstehe nicht, warum sie mich abgehört haben», sagte er der in Halle erscheinenden «Mitteldeutschen Zeitung» (Freitag-Ausgabe). «Ich habe ihnen doch bei jeder Konferenz erzählt, dass ich die Finanzmärkte regulieren wollte und das Bankensystem für marode hielt.» Wikileaks hatte zuvor enthüllt, dass Lafontaine unter den Abgehörten war. Er hatte das Amt 1998 angetreten und war 1999 nicht zuletzt angesichts des Konflikts über seine Bemühungen, das internationale Finanzsystem zu reformieren, zurückgetreten.

Update 9.45 Uhr: Sensburg: USA nach neuen NSA-Enthüllungen in «Erklärungsnot
Der Vorsitzende des NSA-Untersuchungsausschusses im Bundestag, Patrick Sensburg (CDU), sieht nach den neuen Enthüllungen über die Ausspähaktionen des US-Geheimdienstes die Amerikaner »erheblich unter Erklärungsnot«. Zugleich sagte Sensburg am Donnerstag im ARD-»Morgenmagazin«, ungeachtet der Einsetzung eines Sonderermittlers in der NSA-Lauschaffäre behalte sich der Ausschuss einen Einblick in die streng geheime Selektorenliste vor. »Wenn die Vertrauensperson uns Erkenntnisse bringt, die ausreichend sind, ist das ok«, sagte Sensburg. »Ansonsten werden wir darauf bestehen, die Listen einsehen zu können.«

Der Untersuchungsausschuss will am Donnerstag einen Ermittler einsetzen, der im Kanzleramt Einblick in die streng geheime Liste der US-Spionageziele nehmen und prüfen soll, ob bei den Spähaktionen gegen Absprachen verstoßen wurde. Nach Vorstellung der Bundesregierung soll er dann dem Untersuchungsausschuss des Bundestags Bericht erstatten. Mit dem Verfahren wollte die Regierung den USA entgegenkommen, die dem gesamten Ausschuss nicht den Blick in die Geheimakten zubilligen wollen.

Wikileaks: NSA forschte große Teile der Bundesregierung aus

Berlin. Der US-Geheimdienst NSA hat nach Informationen der Enthüllungsplattform Wikileaks nicht nur Kanzlerin Angela Merkel (CDU), sondern weite Teile der Bundesregierung ausgespäht. Aus den Unterlagen, die der »Süddeutschen Zeitung« sowie NDR und WDR zugänglich gemacht wurden, gehe hervor, das sich die NSA vor allem für die deutsche Währungs- und Handelspolitik interessierte. Die am Mittwoch veröffentlichten neuen Dokumente enthielten auch ein Abhörprotokoll eines Telefongesprächs, in dem sich Merkel am 11. Oktober 2011 zu den damaligen Entwicklungen in Griechenland äußerte.

»Die deutsche Kanzlerin Merkel erklärte, sie sei ratlos«, heißt es den Berichten zufolge in den Protokoll. Merkel sagte demnach, sie befürchte, dass selbst ein zusätzlicher Schuldenschnitt die Probleme nicht lösen könnte, da Athen nicht in der Lage sei, mit den verbleibenden Schulden zurechtzukommen.

Ein Sprecher der Bundesregierung erklärte laut »Süddeutscher Zeitung«: »Ohne nähere Kenntnis des zugrundeliegenden Sachverhalts ist der Bundesregierung eine Bewertung derzeit nicht möglich.«

Zu den Spionagezielen der National Security Agency (NSA) in Deutschland gehörten demnach nicht nur das Wirtschafts-, sondern auch das Finanz- sowie das Landwirtschaftsministerium. In den Unterlagen findet sich den Berichten zufolge eine Überwachungsliste mit insgesamt 69 Telefonnummern. Dabei soll es sich um in der Vergangenheit überwachte Anschlüsse wie auch um aktuelle Anschlüsse handeln. Die Überwachung reiche mindestens bis in die 1990er Jahre zurück. So findet sich laut der neuen Enthüllungen auch der Name des ehemaligen Bundesfinanzministers Oskar Lafontaine auf der Liste der NSA. Lafontaine, damals noch SPD-Mitglied, war nur für wenige Monate im Herbst 1998, Frühjahr 1999 Minister der rot-grünen Bundesregierung.

Aus den Unterlagen gehe weiter hervor, dass sowohl der Berliner Telefonanschluss des Bundeswirtschaftsministers als auch seine Fax-Nummer auf der NSA-Überwachungsliste stehen, zudem der Anschluss seines Büroleiters. Diese Liste stamme offenbar aus der Zeit von 2010 bis 2012. Der heutige Bundeswirtschaftsminister Sigmar Gabriel (SPD) war damals noch in der Opposition. Es sei aber anzunehmen, dass auch Gabriel abgehört wurde oder wird. Die Überwachung durch die NSA ist den Berichten zufolge in der Regel an Funktionen und nicht an Personen gebunden.

Gabriel sieht neue NSA-Enthüllungen gelassen

Sigmar Gabriel äußerte sich zu den neuen Wikileaks-Informationen über die NSA-Ausspähung gelassen. »Man bekommt ein ironisches Verhältnis dazu«, sagte der SPD-Chef am Donnerstag im ARD-»Morgenmagazin«. »Wir machen nichts in Ministerien per Telefon, was man abhören müsste.« Viel gefährlicher finde er die Frage, ob die NSA auch die deutsche Wirtschaft ausgespäht habe. »Mein Ministerium ist mit zuständig dafür, Unternehmen zu schützen vor Wirtschaftsspionage, und das finde ich das problematischere Thema.«

Vorige Woche hatte Wikileaks Unterlagen über NSA-Lauschangriffe auf drei französische Staatspräsidenten veröffentlicht. Diese Dokumente stammen, wie auch die Deutschland betreffenden Unterlagen, offenkundig nicht von dem früheren NSA-Mitarbeiter Edward Snowden, sondern von einer anderen, bislang nicht identifizierten NSA-Quelle, heißt es in den Berichten. dpa/nd

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