Postkarte statt Polizei
Das Berliner Büro für Medizinische Flüchtlingshilfe wird zehn Jahre alt
Seit drei Monaten hat Julia Bosse eine Aufenthaltserlaubnis, eine Arbeitserlaubnis und - eine Krankenkassenkarte. »Früher war es sehr, sehr schwer«, erzählt die zierliche Frau mit den blonden Haaren lächelnd, während der Blick der lebendigen blauen Augen durchs Zimmer huscht: Zimmerdecke, Klavier, Perserteppich, Glascouchtisch, Stereoanlage und wieder Zimmerdecke. »Mehr brauche ich nicht«, sagt sie.
Zehn Jahre lang war Julia Bossa regelmäßige Besucherin im Büro für medizinische Flüchtlingshilfe im Mehringhof an der Gneisenaustraße in Kreuzberg. Zehn Jahre lang, insgesamt rund 20 bis 30 Mal, wurden ihr hier Zahnärzte, Allgemeinmediziner und Gynäkologen vermittelt. Besonders problematisch sei es, sagt Julia Bossa, immer bei Zahnproblemen gewesen. In der Regel beschränke sich die Behandlung beim Zahnarzt auf ein Ziehen des Zahns. »Als Ausländer zum Zahnarzt gehen heißt immer: Raus, kein Bohren.«
Repression befürchtet
Fast könnten Julia Bossa und das Medi-Büro, wie es bei Freundinnen und Freunden heißt, ein Doppeljubiläum feiern. Zehn Jahre notwendige medizinische Solidarität mit Illegalisierten in Berlin und zehn Jahre steiniger Weg zum dauerhaften Aufenthaltsrecht.
Als das Büro für medizinische Flüchtlingshilfe im Mai 1996 in einer konzertierten Aktion mehrerer Berliner antirassistischer Gruppen gegründet wurde, ahnte man nicht, dass es noch zehn Jahre fast unverändert arbeiten würde. Ob das nun ein Erfolg ist oder nicht, bleibt dahingestellt, wenn man den Gründungsanspruch, sich selbst überflüssig machen zu wollen, betrachtet. In der Anfangsphase Mitte der 90er Jahre befürchtete man zunächst Repression des Staates. Es sei »heute wohl kaum mehr vorstellbar, mit welcher Akribie umfangreiche Sicherheitsvorkehrungen für das Büro ausgetüftelt und später dann tatsächlich umgesetzt wurden«, beschreibt eine in Kürze erscheinende Broschüre über die Geschichte des Büros die Situation. Es habe einen Alarmknopf gegeben, der den ganzen Mehringhof in Abwehrstellung gegen anrückende Polizei gebracht hätte. Zwei Wachen hätten während der Bürozeiten permanent an den Eingängen gestanden.
Doch es kam anders als befürchtet: Polizeiliche Repressionen blieben aus. Vielmehr wurde das Büro insgeheim von der Berliner Politik als durchaus sinnvolle Einrichtung zur Abfederung der durch die restriktive Migrationspolitik geschaffenen Härten akzeptiert und geschätzt. So schickte sogar das Gesundheitsamt Patienten zur Vermittlung in den Mehringhof. »Letztes Jahr haben wir sogar eine Weihnachtspostkarte der damaligen Ausländerbeauftragten Barbara John bekommen, in der sie uns für unsere Arbeit dankte«, erzählt Anna Richardt amüsiert. Die Medizinstudentin ist seit fünf Jahren dabei.
So füllen sich nach wie vor zu den Bürozeiten, seit zehn Jahren unverändert jeden Montag und Donnerstag zwischen halb fünf und halb sieben, die Gänge im zweiten Stock des Mehringhofs mit Patientinnen und Patienten unterschiedlichster Couleur. Eine Frau im pink-blauen Kleid ist mit ihrer Freundin gekommen, ein älterer Mann mit Gastarbeiterhintergrund reibt sich mit seinen dicken Fingern die Augen, zwei wasserstoffblondierte Frauen tuscheln angeregt.
»Was fehlt Ihnen?«
»Wir sind stolz darauf, nicht als erstes nach dem Pass zu fragen«, erklärt Jan. Das sei anders als bei den meisten anderen Beratungsstellen. Hier heiße die erste Frage an den Patienten, der nach teilweise langem Warten in den kleinen Raum tritt, ausschließlich: »Was fehlt Ihnen?« Dann suche der Bürodienst in einer Liste nach dem passenden Arzt.
Das Büro für medizinische Flüchtlingshilfe ist im Grunde eine Vermittlungsstelle. Die Patientinnen und Patienten werden an vertrauensvolle Ärzte und Ärztinnen vermittelt, die diese dann in der Regel unentgeltlich behandeln. Bei kostspieligen Analysemethoden oder Krankenhausaufenthalten wird auf Spendengelder zurückgegriffen. Eine medizinische Beratung findet, obwohl viele der Ehrenamtlichen eine medizinische Ausbildung vorweisen können, nur in Ausnahmefällen statt. Rund zehn Minuten bleiben die Patienten im Büro, dann haben sie einen Termin bei einem Arzt und bei teuren Behandlungen einen Kostenübernahmeschein in der Taschen - unbürokratisch und effektiv.
Rund 120 Ärzte stehen auf der Liste, die neben Telefon, Kuli und Vermittlungsschein auf dem schmucklosen Tisch des Büros liegt. Auch Anna K., die ihren richtigen Namen aus persönlichen Gründen nicht in der Zeitung lesen möchte, steht darauf. Ihre Praxis befindet sich keine zehn Minuten Fußweg vom Medi-Büro entfernt.
Es sei schon mehrere Jahre her, dass sich das Medi-Büro bei ihr gemeldet habe mit der Frage, ob sie Illegalisierte kostenlos behandeln würde. Damals habe sie es interessant gefunden, mit Menschen aus anderen Kulturkreisen in Kontakt zu kommen. Auch heute noch stehe sie zu der Entscheidung von damals: »Ich bekomme ein bis zwei Patienten pro Woche, das ist sehr gut organisiert«. Besonders gut sei, dass im Falle einer aufwändigeren Behandlung das Büro einen Spezialisten suche. »Das ist sehr angenehm und entlastend für mich, da ich nicht selbst bei Kolleginnen anrufen und um eine kostenlose Behandlung bitten muss.«
Doch nicht immer läuft es ideal. Einmal sei ein Patient mit Rückenschmerzen gekommen und bestand auf einer extrem teuren Kernspin-Tomografie. »Der hat sehr lange auf mich eingeredet und erwartet, ich organisiere ihm das alles.« Aber solche Vorkommnisse seien die Ausnahme, bestätigt die Ärztin. Eigentlich müsste sich der Staat darum kümmern, findet Anna K.: »Illegale haben ein Recht darauf, behandelt zu werden, ohne Angst zu haben, Probleme mit der Ausländerbehörde zu bekommen.«
Davon ist die Politik jedoch weiter denn je entfernt. Jede offizielle Stelle ist mittlerweile laut Aufenthaltsgesetz dazu verpflichtet, Kenntnisse über den illegalen Aufenthalt eines Ausländers an die zuständige Ausländerbehörde weiter zu leiten. Während theoretisch ein Recht auf medizinische Behandlung besteht und die Sozialämter sogar die Kosten der Behandlung übernehmen müssten, sieht die Praxis anders aus. Würde ein niedergelassener Arzt nämlich versuchen, die Kosten der Behandlung beim Sozialamt geltend zumachen, ist dieses laut Gesetz verpflichtet, die Ausländerbehörde zu informieren und dem Patienten droht Abschiebung oder Inhaftierung.
Mittlerweile melden sich aber nicht mehr nur Illegalisierte zur Behandlung. »In letzter Zeit kommen vermehrt Leute aus Osteuropa. Die haben zum Beispiel ein Touristenvisum oder eine befristete Arbeitserlaubnis, was sie in Deutschland von kostenloser ärztlicher Behandlung ausschließt«, erklärt Anna Richardt. Das Asylbewerberleistungsgesetz, dem in Deutschland rund 250 000 Menschen unterliegen, habe die Situation nochmal erschwert. Für die oft langjährig hier lebenden Menschen sei es fast unmöglich geworden zu wissen, welche Behandlungen ihnen nun erlaubt seien und welche nicht. Anna Richardt hat mit Leuten gesprochen, bei denen das Sozialamt die medizinische Behandlung untersagte. »Die entscheiden dann, zu welchem Arzt man gehen darf und zu welchem nicht. Das kommt ständig vor. Teilweise haben Leute sogar Anspruch auf eine Behandlung, die dann von dreisten Sozialamtsmitarbeitern nicht gewährt wird.«
Mitstreiter gesucht
Für die Zukunft wünsche man sich mehr Beteiligung von Migrantinnen und Migranten, erzählt Elena Gröning, die ebenfalls Medizin studiert. »Wir werden eher als Servicestelle gesehen. Es macht zwar immer mal wieder jemand mit, aber oft ist das nicht von Dauer.« Sie vermutet, dass es an Sprachprobleme oder der ungewohnten Plenumssituation liegen könnte, dass potenzielle Interessentinnen oder Interessenten abgeschreckt sind.
»Es ist nicht ideal, aber wir haben uns damit abgefunden«, resümiert Elena. Aber Pragmatismus scheint über die Visionen zu siegen. Vielleicht müssen sie gar nicht mehr lange auf engagierte Mitarbeiterinnen warten: Julia Bossa will sich nun, seit sie die Hilfe persönlich nicht mehr nötig hat, selbst für Kranke einsetzen: »Ich habe diese Papiere und ich will helfen im Büro«, verkündet sie, lächelt schüchtern und blickt durchs Zimmer. Bliebe dann noch der Anspruch, sich selber überflüssig machen zu wollen. Und da sind sie dann doch nötig - die Visionen.
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