»Morgen geht’s weiter, inschallah«

Auf abenteuerlichen Wegen gelangte Omar aus Afghanistan nach Deutschland - nun droht der Rückweg nach Ungarn

  • Silviu Mihai, Subotica
  • Lesedauer: 8 Min.
Immer mehr Menschen aus Konfliktländern fliehen auf dem Landweg nach Europa - und bleiben im rechtspopulistisch regierten Ungarn stecken. Dort drohen bald Inhaftierung und Zwangsarbeit.

Ein kleines Feuer brennt neben der Fensterfront, in der Halle der alten Backsteinfabrik sitzt man auf dreckiger Pappe. Omar schläft noch, Jacke und Mütze an, gewickelt in einen Schlafsack. Es ist ein kalter, trostloser Februarnachmittag in der serbischen Stadt Subotica, doch die lange Reise geht bald zu Ende: Nur noch wenige Kilometer trennen die afghanische Gruppe von Ungarn, also von der Europäischen Union.

Der Wind weht durch das verwahrloste Gebäude. Seit dem letzten, gescheiterten Privatisierungsversuch Ende der 90er Jahre gehören die Anlage und das Gelände so gut wie niemandem mehr. Auf der Straße, die in die Innenstadt und weiter zur Grenze führt, patrouilliert ab und an ein Wagen der deutschen Bundespolizei. »Bis nach Deutschland ist es aber noch ein ganzes Stück«, stellt einer der Jungs fest, nachdem er einen leicht verblüfften Blick auf sein Handy wirft. »Morgen geht's weiter, inschallah - so Gott will«, antwortet ein anderer.

»Es gibt Essen!«, verkündet ein kaum Fünfzehnjähriger, der gerade verschwitzt hochrennt. Eine kleine Delegation läuft zur Straße zurück, um die Pakete entgegenzunehmen. Tibor Varga, der vor gut 20 Jahren einen evangelischen Hilfsverein in Subotica gegründet hat, kommt jeden Tag aufs alte Fabrikgelände und bringt Brot, Jogurt, Käse, Orangen, manchmal sogar Kleider.

»Noch vor zwei, drei Jahren hätte ich mir nicht mal im Traum vorstellen können, dass ich afghanische und syrische Flüchtlinge versorgen werde«, lacht der große Mann mit Tarnhose und blauem Käppi. »Doch jetzt ist alles anders, und jemand muss das machen. Die Regierung in Belgrad scheint wenig daran interessiert zu sein. Diese Menschen bleiben eh nur wenige Tage in Serbien, so das Argument«, erklärt Varga. Er selbst gehört der ungarischen Minderheit an, die hier in der nördlichen Provinz Vojvodina, nahe der ungarischen Grenze lebt.

»Subotica war immer eine multiethnische Stadt. Es gab bisher keine offen rassistischen Zwischenfälle«, sagt der Mann. »Aber das bedeutet leider nicht, dass sich alle freuen, wenn muslimische Flüchtlinge plötzlich zum Alltag gehören. Vor allem bei den Serben weckt das alte Vorbehalte aus den Bosnien- und Kosovo-Kriegen.«

Die zwei Dutzend Jungs aus der afghanischen Gruppe, die vor ein paar Tagen ankamen, kennen diese Hintergründe nicht. »Klar spüre ich, dass man mich auf der Straße so anguckt, als wäre ich gerade vom Mars gelandet«, lächelt Omar. Er wurde vor kurzem geweckt. Schlafsäcke sind Mangelware, man muss abwechselnd schlafen. Die Jungs sammeln sich um das Feuer, machen die Pakete auf. Es wird gegessen: »Wer weiß, wann es wieder was gibt. In Serbien kann man nicht bleiben, so viel ist sicher.« Das Problem sind die äußerst schwierigen Bedingungen.

Omar ist knapp 30 und kommt aus einem kleinen Dorf in der Nähe von Kabul. Als die Taliban 1996 die Macht übernahmen, musste er mit seiner Familie zum ersten Mal fliehen. Den Einwohnern aus der Gegend wurde unterstellt, sie hätten die andere Seite unterstützt. Es ging ins benachbarte Pakistan, wo der junge Mann sein Studium der Betriebswirtschaft abschloss. Nachdem die NATO-Truppen kurz darauf die Taliban verjagten, kehrte Omar nach Kabul zurück. Er gründete dort ein kleines Bauunternehmen: »Alle redeten vom Wiederaufbau.« Die Zusammenarbeit mit der neuen Regierung lief zunächst gut, die Firma bekam viele Aufträge.

Doch dann geriet die politische Situation wieder außer Kontrolle. Klans, die den Taliban nahe gestanden hatten, gewannen an Einfluss, die Lage wurde undurchsichtig, es gab weniger Aufträge. Vor zwei Jahren bekam Omar erste Morddrohungen. Alte Kunden und Geschäftspartner fingen plötzlich an, den Kontakt zu meiden. »Ich musste gehen«, erzählt der Mann. »Allah ist groß, sonst hätte es zu spät werden können.«

Er ging: Erst über Iran nach Istanbul, wo er sechs Monate lang in einer Bäckerei Börek-Pasteten rollte, um Geld für die Weiterreise zu verdienen. Dann über den ganzen Balkan, vom Süden nach Norden. Bis er hier landete, auf diesem verwahrlosten Fabrikgelände an der serbisch-ungarischen Grenze. »Morgen früh machen wir uns wieder auf den Weg, so Gott will.«

Omar ist ein praktizierender Muslim mit moderaten Ansichten, wie die meisten Menschen in Afghanistan. Sein Glaube gibt ihm eine fast naive Zuversicht, dass alles gut wird, dass er es in die EU schafft. Er wiederholt das oft, vielleicht eher für sich selbst als für seine Zuhörer. Seine tiefen, schwarzen Augen erzählen von Entschlossenheit, auch von Milde und Neugier auf andere Länder, eine andere Kultur, das große, angesagte Europa. Er mag Sprichwörter: »Die echte Reise beginnt, wenn man ankommt.«

Am nächsten Tag überquert die afghanische Gruppe nach acht Stunden strammen Marsches die »grüne Grenze« - und wird auf der anderen Seite prompt von deutschen und ungarischen Polizeibeamten festgehalten.

Es ist fast Routine geworden: Letztes Jahr wurden hier laut Angaben der EU-Grenzschutzbehörde Frontex rund 45 000 Asylsuchende abgefangen, in den ersten sechs Monaten dieses Jahres waren es über 60 000.

Omar kommt in die Zelle des Grenzpolizeireviers im Dorf Ásotthalom. Dessen Einwohner wählten 2013 den rechtsradikalen, Jobbik-nahen Politiker László Toroczkai zum Bürgermeister. In den ersten zwei Tagen gibt es jeweils nur ein Schinkenbrot für die Einsitzenden, auf das Omar aus religiösen Gründen verzichtet. Mehrmals kam es zu kleinen Schikanen und Erniedrigungen durch die Polizei. »Sie haben auch mit physischer Gewalt gedroht, um uns die Fingerabdrücke schneller abzunehmen.« Obwohl er gut Englisch spricht, sprechen die Beamten fast nur Ungarisch mit ihm - und im Kommandoton. Nach ein paar Tagen wird Omar in einem der noch offenen Asylbewerberlager untergebracht, das sich in der Stadt Bicske im nordungarischen Komitat Fejer befindet.

»Die Stimmung war auch dort mies, ich konnte nicht mal den Asylantrag stellen oder jemandem meinen Fall erklären«, erzählt Omar. Das Aufnahmelager in Bicske wirkt muffig und marode. Ein hoher Stacheldrahtzaun umgibt die gelblichen Baracken. Teile des Mobiliars stammen aus der Vorwendezeit. Die mageren Geldsummen, die die Asylsuchenden in Ungarn bekommen, reichen nicht weit. »Deshalb haben wir hauptsächlich Reis und Kartoffeln gekocht«, erinnert sich der junge Afghane. Jetzt war er in Europa, doch das Europa seiner Vorstellungen war es für ihn nicht. »In Ungarn habe ich gelernt, dass das mit der Demokratie nicht so einfach ist«, sagt Omar lachend. Wenig später nahm er den ersten Zug nach Deutschland. Er hat Glück: Niemand hält ihn auf, obwohl österreichische und deutsche Polizisten oft ein- und aussteigen.

In München fragt ein Beamter nach Omars Papieren. »Ich war erleichtert. Man kann sich nicht so lange verstecken. Irgendwann ist es auch gut.« Ob es tatsächlich gut ist, steht auf einem anderen Blatt. Omar kommt in ein Flüchtlingslager in Thüringen. Dort wartet er seit März, dass das deutsche Bundesamt für Flüchtlinge und Migration eine Entscheidung in seinem Fall trifft. Die Bedingungen seien »anständig«, nicht wie in Ungarn. Omar lernt Deutsch. Er hat sich ein Handy mit Internetverbindung besorgt und kann endlich mit Familie und Freunden kommunizieren.

Südosteuropäische Staaten sehen sich in letzter Zeit mit einer schnell ansteigenden Zahl von Asylsuchenden konfrontiert. Doch wegen der schlechten wirtschaftlichen Situation bleiben Flüchtlinge selten dort. Zwar sieht die auf deutschen und österreichischen Druck verabschiedete Dublin-Regelung vor, dass Asylsuchende ihre Anträge in dem EU-Mitgliedsland stellen müssen, in dem sie zuerst ankommen. Davon ausgeschlossen sind also Beitrittskandidaten wie Mazedonien oder Serbien, aber auch das in der Krise steckende Griechenland. So kommen die meisten Flüchtlinge, die den Landweg bevorzugen, nach Ungarn - und müssen dort ihren Asylantrag stellen.

Tun sie es nicht und reisen stattdessen weiter nach Westen, so werden sie meist zurückgeschickt. Anhand der Fingerabdrücke, die an den Außengrenzen notfalls unter Einsatz von Gewalt abgenommen und in das gemeinsame Computersystem Eurodac eingespeist werden, kann jeder Mitgliedstaat feststellen, wo die Schutz suchenden Menschen in die EU eingereist sind und wer für sie zuständig ist.

Für Omar, seine Gefährten und Zehntausende andere ist das der Rechtspopulist Viktor Orbán, Ungarns Ministerpräsident. Doch der meint, Europa brauche keine Einwanderung. Illegale Migration sei eine Gefahr für die Sicherheit und wenn das laxe Brüssel nichts dagegen unternehmen wolle, dann werde es eben Ungarn im Alleingang tun. So verabschiedete das Parlament in Budapest Anfang des Monats eine drastische Verschärfung des Asylrechts.

Die Inhaftierung der Flüchtlinge nach wenig transparenten Kriterien, was von einheimischen und internationalen Nichtregierungsorganisationen scharf kritisiert wird, soll Regelfall werden. Durch die Einführung einer pauschalen Arbeitspflicht sollen die Kosten für den Unterhalt der Asylsuchenden abgedeckt werden. An der serbischen Grenze hat die ungarische Armee mit dem Bau einer vier Meter hohen und 175 Kilometer langen Sperranlage begonnen. Sie soll rund 21 Millionen Euro kosten.

Kürzlich hat Omar zum ersten Mal Berlin besucht, die Vielfalt der Stadt gefällt ihm gut. Der 1. Mai fiel auf einen Freitag. Nach dem Gebet in einer Moschee in Kreuzberg ging er für die Rechte der Flüchtlinge demonstrieren. Wenn er zurück nach Ungarn deportiert wird, droht ihm die Inhaftierung. Das wäre gemäß der Dublin-Regelung das wahrscheinlichste Szenario. Die deutsche Rechtsprechung war aber zuletzt nicht mehr so eindeutig. Wegen der willkürlichen Inhaftierungspolitik sei eine Rückabschiebung nach Ungarn nicht mehr mit den internationalen und europäischen Gesetzen vereinbar, lautete etwa vor einigen Monaten das Urteil eines Gerichts in Berlin. Falls Omar doch in Deutschland bleiben darf, will er sich - inschallah - wieder selbstständig machen und ein freier Mensch sein.

#ndbleibt – Aktiv werden und Aktionspaket bestellen
Egal ob Kneipen, Cafés, Festivals oder andere Versammlungsorte – wir wollen sichtbarer werden und alle erreichen, denen unabhängiger Journalismus mit Haltung wichtig ist. Wir haben ein Aktionspaket mit Stickern, Flyern, Plakaten und Buttons zusammengestellt, mit dem du losziehen kannst um selbst für deine Zeitung aktiv zu werden und sie zu unterstützen.
Zum Aktionspaket

Linken, unabhängigen Journalismus stärken!

Mehr und mehr Menschen lesen digital und sehr gern kostenfrei. Wir stehen mit unserem freiwilligen Bezahlmodell dafür ein, dass uns auch diejenigen lesen können, deren Einkommen für ein Abonnement nicht ausreicht. Damit wir weiterhin Journalismus mit dem Anspruch machen können, marginalisierte Stimmen zu Wort kommen zu lassen, Themen zu recherchieren, die in den großen bürgerlichen Medien nicht vor- oder zu kurz kommen, und aktuelle Themen aus linker Perspektive zu beleuchten, brauchen wir eure Unterstützung.

Hilf mit bei einer solidarischen Finanzierung und unterstütze das »nd« mit einem Beitrag deiner Wahl.

Unterstützen über:
  • PayPal