Istanbul: Behörden verbieten Friedensmarsch der HDP

Türkei greift PKK im Nordirak an / PKK: Waffenstillstand mit Ankara hat keine Bedeutung mehr / Ankara nutzt Anti-IS-Offensive zu Großangriff gegen kurdische Linke / Grünen-Politikerin Roth: Erdogan kurdische Selbstverwaltung in der Regierung verhindern

  • Lesedauer: 6 Min.

Update 20.10 Uhr: Kritik an türkischen Angriffen auf PKK
Die Angriffe der türkischen Armee auf kurdische Stellungen im Nordirak sind in der Bundesrepublik auf Kritik gestoßen. Der außenpolitische Sprecher der SPD, Niels Annen, begrüßte es zwar, dass Ankara nun nach langem Zögern militärisch gegen die Terrormiliz IS in Syrien vorgehe. Die zeitgleichen Angriffe auf PKK-Stellungen im Nordirak zeigten jedoch, dass die Prioritäten Ankaras nicht der Bekämpfung des IS gälten. Auch der CDU-Außenpolitiker Roderich Kiesewetter sprach von einem zwiespältigen Verhalten der Türkei. Der Grünen-Vorsitzende Cem Özdemir begrüßte die Kehrtwende der Türkei. Die Entscheidung komme aber recht spät, sagte Özdemir dem rbb-Inforadio. Die Grünen-Abgeordneten Claudia Roth und Omid Nouripour betonten, eine wirkliche Kehrtwende erfordere unter anderem ein Ende der türkischen Unterstützung radikaler Kräfte in Syrien und der Duldung des IS auf türkischem Boden. Roth hatte zuvor schon erklärt, mit den Bombardements wolle die türkische Regierung eine kurdische Selbstverwaltung in Syrien oder dem Irak verhindern, statt den IS zu bekämpfen.

Die Behörden in Istanbul haben derweil den für Sonntag geplanten Friedensmarsch der linken HDP verboten. Zur Ausrede hieß von Seiten der Stadtverwaltung, es müsse mit »starkem Verkehr« gerechnet werden, zudem seien die Sicherheit gefährdende »Provokationen« zu befürchten. Die HDP hatte zu dem Protest gegen die Gewalt des IS aufgerufen. Auch der Linken-Politiker Andrej Hunko wollte an dem Protest teilnehmen. Er war nach eigenen Worten von der HDP dazu eingeladen worden. Hunko äußerte in einer Erklärung »Besorgnis über die Eskalation in der türkisch-syrischen Grenzregion«. Am Freitagabend war die Polizei bereits massiv mit Tränengas und Gummigeschossen gegen Regierungskritiker vorgegangen.

Update 17.55: Barsani fordert Ende der Luftangriffe
Der Präsident der Kurdischen Autonomieregion im Nordirak, Massud Barsani, hat ein Ende der türkischen Luftangriffe gegen Angehörige der verbotenen kurdischen Arbeiterpartei PKK verlangt. Dies berichtete die kurdische Nachrichten-Webseite Bas News am Samstag. Sie zitierte dabei Quellen, wonach Barsani mit dem türkischen Ministerpräsidenten Ahmet Davutoglu gesprochen und Ankara sowie die PKK gedrängt habe, ihre Differenzen durch Verhandlungen beizulegen. Davutoglu wies demnach darauf hin, Barsani habe sein Einverständnis für Luftangriffe gegen die PKK gegeben.

Update 12.55 Uhr: Yücel: Westen erkauft sich Anti-IS-Kampf der Türkei mit Verrat an den Kurden
In der »Welt« schreibt der frühere Taz-Kollege Deniz Yücel zur Politik Erdogans und zur Partnerschaft mit dem Westen, »derart wohlwollende Reaktionen hat die türkische Staatsführung schon lange nicht mehr erhalten: Endlich, so heißt es allenthalben, gehe die Türkei gegen den Islamischen Staat vor. Doch erkauft haben sich die USA die Beihilfe im Kampf gegen den IS mit dem Verrat an jenen, die den IS bislang am effektivsten bekämpft haben: den Kurden.« Es seien »die Milizen der syrisch-kurdischen PYD und die mit ihr verbündete PKK« gewesen, »die die Jesiden aus den Sindschar-Bergen im Nordirak retteten, Kobani verteidigten und zuletzt den IS aus Tel Abiad vertrieben. Und sie hatten dem IS nicht allein militärische Schlagkraft entgegenzusetzen, sondern auch ein anderes Gesellschaftsmodell: säkular, demokratisch, die Gleichberechtigung der Frauen fördernd. Es gibt nicht viele Kräfte in den syrischen Wirren, für die das zutrifft. Nun verrät der Westen sie zugunsten einer Regierung, die in den vergangenen Jahren nach innen wie nach außen oft genug unter Beweis gestellt hat, dass ihr eine ganz andere Gesellschaftsordnung vorschwebt.«

Update 12.35 Uhr: PKK: Waffenstillstand mit Ankara hat keine Bedeutung mehr
Die PKK hat am Samstag ihren Waffenstillstand mit der türkischen Regierung beendet. Die Waffenruhe habe nach den Angriffen der türkischen Armee auf Lager der PKK im Nordirak »keine Bedeutung mehr«, hieß es in Berichten über eine Erklärung im Internet. Der umstrittene Präsident Recep Tayyip Erdoğan hatte Gespräche mit den Kurden 2012 begonnen, diese waren aber immer wieder ins Stocken geraten.

Türkei greift PKK im Nordirak an

Berlin. Verhaftungen in der Türkei, Luftangriffe im Nordirak: Das Erdogan-Regime geht nun zwar gegen die Dschihadistenmiliz IS vor - doch das sieht wie die Deckung für einen Großangriff gegen die kurdische Linke aus. Bei Razzien wurden landesweit in den vergangenen Stunden insgesamt 590 Verdächtige wegen Verbindungen zu »Terrororganisationen« festgenommen - Ankara macht hier keinen Unterschied zwischen den islamistischen Mörderbanden und politischen Kräften, die sich in den vergangenen Monaten maßgeblich im Kampf gegen den IS engagiert haben.

Seit der Nacht zum Samstag fliegt die türkische Luftwaffe außerdem nicht nur Angriffe gegen IS-Stellungen in Syrien, sondern auch gegen kurdische Gruppen im Nordirak. »Wir haben den Befehl für eine dritte Runde von Angriffen in Syrien und im Irak erteilt«, sagte Ministerpräsident Ahmet Davutoglu vor Journalisten. Es seien Einsätze in der Luft und am Borden »im Gange«. Im Nordirak wurden demnach Ziele wie Unterstände und Waffenlager der PKK angegriffen. Unter den genannten Orten sind auch die Kandil-Berge, wo die Kurdenkämpfer ihr Hauptquartier haben. Neben den Luftangriffen seien auch Artillerieangriffe türkischer Bodentruppen erfolgt.

Die PKK wird von der türkischen Regierung als »Terrororganisation« eingestuft. Mitglieder des bewaffneten Arms der PKK hatten sich in dieser Woche zur Tötung zweier Polizisten in der Türkei bekannt. Sie bezeichneten die Taten als Vergeltung für das Massaker von Suruc. Dort waren bei einem Anschlag auf ein linkes Kulturzentrum 32 Menschen getötet worden, sie wollten in der Regierung Rojava Aufbauhilfe leisten.

Die türkische Polizei brachte seit Freitag große Razzien in 13 Provinzen ins Laufen. Diese richteten sich zwar auch gegen den IS, aber nicht zuletzt gegen die PKK, deren Jugendorganisation YDG-H sowie gegen die Revolutionäre Volksbefreiungspartei-Front DHKP-C. Ein Mitglied dieser Gruppe wurde laut der Nachrichtenagentur Anadolu von der Polizei in Istanbul getötet. Am Abend kam es dort bei Protesten gegen die IS-Miliz zu Zusammenstößen zwischen Demonstranten und der Polizei. Die Einsatzkräfte gingen mit Tränengas und Gummigeschossen gegen die Teilnehmer der Kundgebung vor. Diese verurteilten das Attentat in Suruc und warfen der Regierung vor, IS-Kämpfer in der Türkei zu tolerieren. Für Samstag rief die wichtigste prokurdische Partei HDP zu einem großen »Marsch des Friedens« in Istanbul auf. Erwartet worden waren tausende Menschen - allerdings soll die Demonstration inzwischen verboten worden sein.

In der Türkei machen Vorwürfe die Runde, die türkische Regierung könne etwas mit dem Anschlag zu tun haben, welcher dem IS zugeschrieben wird. Ankara steht seit langem in der Kritik, die Dschihadistenmiliz mindestens indirekt zu unterstützen.

Die Grünen-Politikerin Claudia Roth kritisierte im Deutschlandfunk die Angriffe der türkischen Luftwaffe auf Lager der PKK im Nord-Irak. Mit den Bombardements wolle die türkische Regierung eine kurdische Selbstverwaltung in Syrien oder dem Irak verhindern, statt den IS zu bekämpfen. Roth sagte, »die Türkei war seit Langem eine Art logistischer Rückzugsraum, ein Sammlungsbecken für dschihadistische, islamistische Kämpfer, Nachschub wurde von dort organisiert, Ölverkäufe sind dort passiert. Das heißt, der Islamische Staat hat auch finanzielle Mittel dort erworben«.

Dagegen lobte die Bundesregierung Ankaras Einsatz gegen die Dschihadisten. »Es ist wichtig, dass sich auch die Staaten der Region gegen den IS-Terror engagieren und sich über Religionsgrenzen hinweg gegen diesen barbarischen Terror stellen«, sagte Verteidigungsministerin Ursula von der Leyen (CDU) der »Bild«-Zeitung. Nach monatelangen Verhandlungen erlaubte die Türkei zudem den USA die Nutzung des Luftwaffenstützpunkts Incirlik. Agenturen/nd

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