Flüchtlinge wollen flüchten

Bewohner einer neuen Unterkunft in Marzahn werden von Rassisten und Neonazis bedroht

  • Sarah Liebigt
  • Lesedauer: 4 Min.

»Der Weg zum Einkaufen war ein reiner Spießrutenlauf«, sagt eine Frau, die in der gerade erst eröffneten Flüchtlingsunterkunft im Bezirk Marzahn-Hellersdorf wohnt. Mit ihrer Familie ist sie dort eingezogen und berichtet nichts Gutes vom Alltag in Marzahn. »Ich bin Roma aus Bosnien«, sagt sie. Und: »Das erinnert an Krieg hier.« Sie habe sich tagelang nicht rausgetraut, aber schließlich musste sie Lebensmittel einkaufen gehen. Draußen stünden Menschen, die den Flüchtlingen Drohgebärden zeigen, Handbewegungen, als ob man jemandem den Hals umdreht.

Auch pakistanische Flüchtlinge berichteten derlei. Eine Familie, die es nicht mehr aushielt, wollte zurück in die Erstaufnahmeeinrichtung, wo sie einige Wochen lang lebte. Das ist jedoch nicht gestattet.
Nach nd-Informationen wollten sich einige Bewohner der Unterkunft am Blumberger Damm an das Landesamt für Gesundheit und Soziales (LAGeSo) wenden und um die dringende Verlegung in eine andere Unterkunft bitten. Die Senatsverwaltung für Gesundheit und Soziales bestätigte dieser Zeitung, »dass es Anfragen von Bewohnern am Blumberger Damm mit der Bitte um Verlegung aufgrund von fremdenfeindlichen Vorfällen gab«. Da wegen der weiterhin hohen Zugangszahlen aber alle Gemeinschaftsunterkünfte in Berlin zu mindestens 100 Prozent belegt seien, sei es derzeit nicht möglich, diesen Bitten um Verlegung zu entsprechen, sagt Sprecherin Monika Hebbinghaus.

Die »Gemeinschaftsunterkunft« am Blumberger Damm wurde am 15. Juli eröffnet. Zwischen dem 10. und dem 23. Juli gab es an neun von 14 Tagen Polizeieinsätze vor und in der Nähe der Unterkunft. Wie die Polizei auf nd-Anfrage mitteilte, zählen zu den Gründen für die Einsätze beispielsweise Hausfriedensbruch, Beleidigung, der Verstoß gegen das Versammlungsgesetz sowie die Verwendung von Kennzeichen verfassungswidriger Organisationen. Die Polizei sprach demnach wiederholt Platzverweise aus oder wurde wegen Kundgebungen vor der Unterkunft herbeigerufen.

»Not welcome«

Der Einzug der ersten Flüchtlinge sprach sich zügig herum, die Info sei schnell bei den Neonazis angekommen, wie ein Flüchtlingsaktivist dem »nd« berichtet. Einen Abend später erteilte die Polizei die ersten Platzverweise. Seitdem sei nicht so recht Ruhe eingekehrt. Immer wieder statteten Kleingruppen der Unterkunft »Besuche« ab, eine Gruppe von etwa acht Menschen traf sich regelmäßig auf der Wiese gegenüber der Unterkunft zum »Picknick«. Meist sind es immer dieselben, die keiner organisierten Gruppe angehören, sondern dem Dunstkreis der »besorgten Bürger« Marzahn-Hellersdorfs. Ab und zu gesellen sich bekannte Gesichter von den Montagsdemos dazu. Die NPD hielt eine Kundgebung ab. Manchmal haben die Leute Schilder dabei, auf denen steht dann »not welcome«. Die Security-Mitarbeiter an der Unterkunft seien ganz froh, »wenn wir ab und zu mal vorbei radeln«, heißt es aus Antifa-Kreisen.

»Es wird sicher nicht einfach werden, die von Neonazis aufgeheizte Stimmung zu überwinden«, sagt Bjoern Tielebein, Mitglied des Bezirksvorstandes der Linkspartei in Marzahn-Hellersdorf. »Aber es ist ein sehr gutes Zeichen, dass sich viele Marzahn-Hellersdorfer gemeldet haben, um den neuen Bewohnern ein herzliches Willkommen zu bereiten.« Der Verein »Hellersdorf hilft« beispielsweise ist eines derjenigen Netzwerke, die Unterstützung für die Flüchtlinge organisieren. »Es gibt viele Menschen, die sich ehrenamtlich engagieren wollen«, sagt Tielebein. Die Senatsverwaltung will mit dem Betreiber der Unterkunft und Ehrenamtlichen im Umfeld der Einrichtung den Dialog suchen, um die Akzeptanz der Flüchtlinge im Stadtteil und damit auch das individuelle Sicherheitsempfinden der Bewohner zu verbessern. »Dazu werden sicherlich auch Maßnahmen gehören, die die Kommunikation in den Stadtteil weiter verbessern«, sagt Hebbinghaus.

Für das Vorgehen der Polizei haben einige Ehrenamtliche jedoch kein Verständnis. Die Polizei müsse jedes Mal herbeigerufen werden und sei trotz der bekannten angespannten Situation nicht dauerhaft präsent, kritisieren Unterstützer. Es brauche ein »vernünftiges Sicherheitskonzept der Polizei, das es den Geflüchteten vor Ort ermöglicht, sicher und ohne Sorge vor Übergriffen ihren Alltag auch außerhalb der Unterkunft zu gestalten«, fordert ebenfalls Fabio Reinhardt, Sprecher für Integrations- und Flüchtlingspolitik der Piratenfraktion im Abgeordnetenhaus. »Der Innensenat muss klar kommunizieren, dass er das Thema im Blick hat, und nicht die Situation verharmlosen.«

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